!!!EINE BAHNFAHRT



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1890: Ein Fahrgast schildert folgende Reiseerlebnisse die er mit der Bahn und Aufenthalt in einer Station  hatte: „Als ich neulich in einem Schnellzug fuhr, las ich in einem Roman,  welchen ich mir von der Leihgesellschaft „Globus“ auf einer Station  ausgeborgt hatte. Dieser Roman spielte vor etwa 300 Jahren, und es waren allerlei seltsame Aventuren darin erzählt, als deren Schauplatz der Autor die Heerstraßen und Schänken jener Tage ins Gesichtsfeld rückte. Da wurde mit Behagen berichtet, wie der fahrende Edle beim „Funkelnden Stern“, bei den „Drei Äpfeln“, bei der „Fischenden Katze“ zukehrte und es sich bei Malvasier  und gebratenem Kapaun wohl sein ließ, während draußen der Knappe das Rößlein seines  Lehnsherrn hielt und stehend aus dem Weinkrug trank, den ihm lächelnd das  blondzöpfige Töchterlein des Wirtes hinhielt.

Die Schilderung ließ sich so anmutend an, dass ich mich dadurch schier in die Beschauung des  Komforts unserer  glücklichen „Jetztzeit“ vertiefte. Ich verglich den Ritter  Bärnwart von Schwanenburg, der neben dem knisternden Kamin sich an der schön geschnitzten Rückenlehne breit machte und vom schmunzelnden Wirt betrachtet,  in angenehmer Muße einen Schluck und einen Bissen bedächtig nach dem anderen einnahm, mit mir selbst, der ich vorher auf einer sogenannten Bahn-“Restauration“ den durch die Reisequalen veranlassten Kräfteverlust meines sterblichen Ich zu ersetzen versucht hatte.

Fürwahr, wir haben keinen Grund, den Reiseschlendrian des Schwanenburgers zu beneiden. Beschenkt uns der Fortschritt nicht mit ganz anderen  Wohltaten?

Wenn mein Erzähler wahrheitsgetreu berichtet war,  so vergeudete Bärnwart von Schwanenburg mehr als eine Stunde auf das Mahl, mit welchem er sich für die noch bevorstehenden Mühseligkeiten seiner Reise stärkte. Da ging es bei uns flotter. Zehn Minuten Aufenthalt waren vorgeschrieben, von diesen fielen drei oder vier der herkömmlichen Verspätung wegen ab, und auch während der  übrigen wurden unsere Kaumuskeln nicht allzu sehr angestrengt, da es sich darum handelte, ein halbes dutzendmal nach dem Speisenträger und nicht minder oft nach dem Zahlkellner zu rufen. Die Tafelmusik wurde nicht, wie dort in der Schänke auf dem Heerwege, von wandernden Harfnern, sondern von der Glocke neben dem Eingang besorgt, welche sofort, als wir uns niedersetzten, mit ihrer Tätigkeit begann. Gab sie das Zeichen, dass eben ein Zug in einer anderen Richtung ein- oder ausfuhr, läutete sie für und selbst das erste oder das zweite Mal „ab“ - das musste uns unerfindlich bleiben. Schade, dass Schiller die Einrichtung der Eisenbahnen noch nicht kannte, diese verschiedenen Tätigkeiten der Glocke hätten ihm für sein Lehrgedicht ohne Zweifel Stoff zu manch sinnigem Vers gegeben. Wie lehrreich ist uns beispielsweise das Läuten, welches unsere Ankunft anzeigt! Wie sehr spornt das Abläuten die Energie des Zusammenklappens unserer Kieferknochen! Wie wirksam zieht das Erzgeklingel und das damit verhallende Geschrei unsere Aufmerksamkeit von dem gemeinen tierischen Essbedürfnis ab!

Nach dem Lied von der Glocke wäre es ungerecht, in unserer lyrischen Prosa nicht auch des leckeren Mahles zu gedenken.

Die Suppe war dünn, der Braten kalt und zäh. Der Glanzpunkt unseres „Diners“, ein halbes oder ganzes Huhn, erschien leider verspätet als Schaugericht, und nur wenige fanden noch die Zeit, den bereits bezahlten Leckerbissen in ein mit Druckerschwärze bedecktes Papier einwickeln zu lassen. Den meisten hätte es die nämlichen Dienste geleistet, wenn statt des gebratenen Vogels  ein solcher aus Papiermaché aus der  Entfernung gezeigt worden wäre. Das eiskalte Bier wurde in der Schnelligkeit hinunter geschüttet und die Magenwände von einer Flüssigkeit bespült, vor deren Temperatur die Pepsinzellen erschrocken sich verschlossen und ihren Inhalt für sich behielten.

Mehreren von uns wollte die Hast nicht gefallen, mit welcher die Arbeit dieser Mahlzeit bewerkstelligt werden musste, und einer vermaß sich sogar, an seinen eigenen Hund zu erinnern, der den Inhalt seiner Schüssel „hinunterzuschlampen“ pflegte, wenn er einen konkurrierenden Mithund in der Nähe wusste. Ein zweiter ließ das Wort „Darmkatarrh“, erzeugt durch das eingepumpte Getränk, fallen. Ein dritter, offenbar ein Philosoph, erkannte auch hier das Gesetz von Ursache und Wirkung, indem er uns nachwies, dass die Bahngesellschaft unmöglich, wenn sie sich das Recht erwerben wollte, für diese Fahrt die Eilzugsgebühr einzuheben, die vielen  hundert Kilometer in vierzehn oder fünfzehn Stunden zurücklegen und dabei noch, der Aufnahme von Reisenden wegen, an fast allen  Stationen anhalten konnte, ohne ihren Fahrgästen die Zeit vom Mund wegzunehmen.

Schon waren wir geneigt, mit einigem Neid derjenigen zu gedenken, welche sich „ein Service in den Waggon“ hatten geben lassen und auf diese Weise den durch das Abläuten erzeugten Stimmungen entgangen sein mussten, als wir über unseren Irrtum belehrt wurden. Ernstlich war ein armseliges Gedränge und Geschrei an den Fenstern der Waggons entstanden, weil die bereits harrenden Kellner nicht wussten, zu welchen Waggons sie ihre Platten hintragen sollten. Dann aber fand sich, dass die Reisenden ihre eigene gymnastische Kunstfertigkeit überschätzt hatten. Der eine und andere erinnerte sich wohl an Blondin, welcher es verstand, sich auf einem Seil einen Pfannkuchen zu backen. Dagegen brachte er selbst es nicht fertig, sein Gedeckblech auf den Knien zu halten, und mit fünf Nachbarn, denen es eben so wenig gelang, in einem Wagen mit Speisen und Getränken zu hantieren, in welchem die ineinander überkreuzten Knie und Kleider es nicht einmal gestattet hätten, eine zu  Boden fallende Zigarre aufzuheben, wenn nicht die gegenüberliegende Bankseite gleichzeitig aufstand.

Indessen gibt es einen Trost für alles. So gut es sich der Mensch gefallen lässt, dass er vierzehn Stunden lang und noch mehr mit zwei oder drei Unterbrechungen, die zusammengerechnet noch keine halbe Stunde ausmachen, regungslos eingeschachtelt und eingesperrt bleiben und dafür auch sogar zahlen muss – also schuldlos etwas über sich nimmt, was gleich nach dem Latten- oder dem Dunkelarrest rangiert – ebensogut kann er schließlich auch ein solches Mahl aushalten.

Indessen wäre meine Schilderung unvollständig, wenn ich nicht auf einige Fürwitzige hinwiese, welche allerlei naseweise Fragen stellen. Solche waren beispielsweise: Warum haben die technischen Fortschritte, die man seit dem Entstehen des Eisenbahnwesens in Lokomotiven, Schienen,  Signalen usw. so vielfach wahrnimmt, sich noch so wenig auf den Betrieb, auf die  Verbesserung der Waggons erstreckt, von welchen die meisten mehr an unsere vormärzlichen Postkutschen, als an die großen Verkehrsverhältnisse, die sich allmählich herausgebildet haben erinnern? Warum duldet man die Barbarei einer Verpflegung in den Restaurationen, die allerdings weit mehr der Verwaltung, als den Wirten zur Last fällt? Warum behandelt man die Menschen im Waggon als Fracht, vor dem Esstisch als Schübling?

Es  entstehen in strenger Einzelhaft, in welcher dem dahinrollenden Gefangenen die Sardine in einer  Büchse mitunter als ein in beneidenswerter Freiheit verweilendes Geschöpf erscheint, oft Gedanken, die man auch hinterher nicht los wird, wenn man einmal wieder zu einem festen Standpunkt und zu Atem gelangt.  Wie wäre es beispielsweise, so dachte ich mir, wenn man zeitweilig zu einer  gewissen Stunde auf einer bestimmten  Strecke einen Restaurationswagen einschaltete?

Dass ein solcher Vorschlag nicht zu den unausführbaren Hirngespinsten gehört, mag das Beispiel  mancher norddeutschen Bahnverwaltungen beweisen, die es genau so machen.“

QUELLE: Dillinger Reisezeitung, 1. Oktober 1890, Österreichische Nationalbibliothek ANNO

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