!!!Der mißverstandene Oesterreicher (Essay)

Von [Hans Prager|Biographien/Prager,_Hans]\\ \\


Man weiß in der Welt „draußen“ nicht allzu viel von Österreich, zumindest nicht allzu 
viel Richtiges. Nur von Fall zu Fall, wenn wir in einen der Brennpunkte internationaler 
Ereignisse treten, dann fühlen wir, daß wir in den Augen der andern „da sind“: ob 
wir hierbei richtig begriffen werden, bleibe dahingestellt. Wir dürfen aber nicht 
ermüden und müssen uns immer wieder anstrengen, damit der Fremde unserm 
Wesen näherkomme. Diesem Bemühen dienen die folgenden Gedanken; sie 
erheben nicht den Anspruch, ein ganzes und wahres Bild des Österreichers zu 
geben. Völker tragen noch mehr als Einzelmenschen an dem Schicksal, 
mißverstanden zu werden.


Österreich – das ist der Name für eine sonderbare Tatsache, die ihresgleichen kaum 
hat und seine Inwohner, ihr Schicksal und ihre Wesensart mitbestimmen half. 
Österreich ist ein Name für eine bestimmte Landschaft, die sich vom Marchfeld bis 
an den Bodensee erstreckt. Gleichzeitig benennt es auch etwas viel Größeres, auch 
Mannigfaltigeres und völlig von diesem Österreich Verschiedenes, das einst von 
Rußland und der Türkei bis nach Sachsen, Bayern und der Schweiz reichte. Auch 
das war Österreich, und in ihm sind ja die Menschen dieser Zeit geboren und 
herangewachsen, für sie ist noch vieles davon in Erinnerung und als solche 
Gegenwart. Der Österreicher ist in den merkwürdigen Gegensatz eingeschaltet, daß 
er immer wieder erfahren muß, wie sehr er gleichzeitig zwei seelischen Regionen 
angehört. Die eine ist die landschaftlich und politisch fest umgrenzte, durchaus 
wirkliche Gegenwartswelt, das deutsche, das neue Österreich, so und so 
beschaffen, so und so besiedelt, so und so lebend. Das andere ist das 
„schwarzgelbe“ Österreich, unserm heutigen Erleben flüchtig geworden, aber eine 
historische Wirklichkeit, die in einer Vielzahl der Bewohner unsers Landes noch 
vorhanden ist und irgendwie in ihrer Seele weiter wirkt und schafft. So wird in ein und 
derselben Seele bereits mythisch gewordene Geschichte einer lebendigen und noch 
geschichtslosen Gegenwart gegenübergestellt, sie und die Vergangenheit stoßen da 
unablässig aufeinander und bewirken eine eigenartige innere Spannung; das gibt 
unserm öffentlichen Leben eine bestimmte Art und wiederholt die seit je vorhanden 
gewesene Tragödie des österreichischen Menschen. Wir wurden von der Geschichte 
zur geographischen und politischen „Rückbildung“ verurteilt. Wir konnten nur deshalb 
als „Rest“ in eine neue historische Welt eintreten, weil die Fähigkeit, sich selbst zu 
verkürzen – es ist ein tiefes Leiden -, immer im Österreicher verwurzelt war.

Die Nähe – jetzt für uns weltgeschichtliche Tatsache geworden – hat in der 
Monarchie den stärksten Zwang auf den Österreicher ausgeübt und tut dies in der 
Republik weiter. Das alte Reich war groß: dennoch war der deutsche Österreicher in 
nur allzu kurzer Zeit aus dem Bezirk seiner Sprache und der ihr und ihm eignen 
Kultur entfernt. Das Heimatland im engeren Sinne war klein und ist es geblieben. Das 
Paradoxe daran war, daß diese Kleinheit keinen eindeutig positiven Wert darstellte; 
stets bezogen auf die Größe des Landes, empfand der deutsche Österreicher die 
Kleinheit seiner deutschen Heimat als etwas Schwebendes und nicht als etwas 
Festes. Es war ihm nicht gegeben, in einem seelischen Raum zu leben, der ruhte. 


Immer in bezug auf das Reich und seine großen Möglichkeiten  war ihm sein 
Vaterland klein und zugleich groß. __Heimat, Vaterland, Reich__: diese drei Begriffe 
schoben sich ineinander und trugen in den österreichischen Patriotismus ein so 
starkes Spannungsmoment hinein. Heimat war das Alpental das Kronland; Vaterland 
alles, was deutsch sprach und fühlte; die Monarchie endlich wurde zum Inbegriff 
einer Beziehung, die wohl kaum fest und klar in den Bewohnern vorhanden war. So 
mußte der deutsche Österreicher zwischen dem engsten Heimatgefühl und dem 
weitesten Patriotismus hin und her pendeln. Diese Tatsache hat den „Relativismus“ 
im Charakter des österreichischen Menschen entwickelt. Auch der neue Österreicher 
drängt nach andern, jenseits unsrer Grenzen liegenden Kulturwelten. Ohne diesen 
Bezugssinn kann offenbar der Österreicher nicht leben; diese Neigung macht die 
geistige und seelische Beweglichkeit des Menschen unsrer Landschaft aus, bestimmt 
seine Lebenskraft und Fähigkeit, weit über die Grenzen seines Bezirks zu denken; 
gleichzeitig aber hat dieser Sinn ein seelisches Leiden zur Folge, offenbart damit 
sozusagen unsre Neurasthenie. Solch ein Charakter hat Neigung zum Wahn, 
unterliegt dem Zwang, immer relativ zu denken und zu fühlen, von sich auf die 
andern und von diesen auf sich zurück. An Österreich haben wir den eigenartigen 
Fall in der Weltgeschichte, daß ein Volk aus historischen Ursachen in einen 
Gemütszustand geriet, der nicht gesund und nicht krank zu nennen ist. Der deutsche 
Österreicher ist schwankend und nie seines nationalen Bewusstseins so sicher wie 
etwa der Brite. Völker, die sich immer auf andre bezogen sehen, sind weich, aber 
müssen deshalb doch nicht schwach sein. Der so geartete Mensch sucht immer 
nach seiner Heimat; ihm ist sein Ich nichts Selbstgewisses; es ist Besorgnis in ihm, 
daß er es verliere, und diese Angst wird ihm zur zweiten Natur. 

Wer verstehen will, warum der Österreicher eine so eigentümliche Charakterveranlagung hat,    w a r u m    e r    s o    v ö l l i g   \\ m i ß v e r s t a n d e n    w i r d, der 
muß ihn von da aus zu begreifen suchen.

Solch ein Mensch hat nicht die Fähigkeit, im selbstgenügsamen Besitz seines 
Wesens zu verharren – hierzu ist er nicht eng genug -, in seiner Art aber waltet auch 
nicht durchgängig der selige Schöpferglaube, der ganze Welten zu erbauen 
unternimmt. Dann kommt noch dies dazu: die Herzlichkeit unsrer Menschen, eine 
der köstlichsten Gaben, die unserm Volk verliehen wurden, hat einen eigentümlichen 
Nebenton, der auf alle, welche das erkennen, schmerzlich wirkt. Diese Herzlichkeit 
und Gemütswärme gibt sich meistens mit der unausgesprochenen, aber doch so 
eindringlichen Bitte um Entschuldigung, daß man überhaupt auf der Welt ist, daß 
man wagt, die eigne Persönlichkeit dem andern sichtbar vorzustellen. Der 
Österreicher ist gewiß keine Sklavennatur, ihm mangelt auch die Fähigkeit zu jener 
grenzenlosen Demut, die in der russischen Seele wohnt; und doch erweckt es nur zu 
oft den Anschein, als ob er zu wenig Selbstachtung hätte. Diese Herzlichkeit ist eben 
nicht frei von Problematik; sie verkündet ganz besonders das Schwebende unsrer 
nationalen Eigentümlichkeiten. Das österreichische Schicksal bestand immer in dem 
Zwang, das Wohlwollen der Mächte zu gewinnen, weil die Angst vor 
Elementarkatastrophen unser politisches Leben unbewußt und bewußt beherrschte. 
Diese Besorgnis und die Neigung, sie zu maskieren, drang in die Seele des 
Menschen unsrer Landschaft und erfüllte sie mit einer Fragwürdigkeit, die sich heute 
wie ehedem äußert. Der Mensch dieser Art wirbt unbewußt um die Güte der andern 
aus Angst, er könnte an dessen Strenge scheitern. Die Herzlichkeit des 
Österreichers ist eine Erscheinung der Nähe, der Freude am Erleben dessen, was 
der Tag bringt, und der Freude daran, daß der Nächste, der Nachbar, an dieser 
Freude teilhat. Das ist erklärlich: unsre Alpenlandschaft mit ihren einsamen Tälern 
drängt jeweils wenige Menschen auf engem Raum zusammen. Überdies waren wir 
immer von fremder Kultur umgeben und daher auf uns selbst zurückbezogen; es 
fehlte uns endlich ein unmittelbares Verhältnis zur Größe des Reiches und zu seiner 
Mission. Das sind alles \\ R e d u k t i o n s k r ä f t e, welche einen leidenschaftlichen 
Aufschwung und verzweifelten Niederbruch verhindern. Stets bemüht, das labile 
Gleichgewicht zu erhalten, kreisen die Seelenkräfte des Österreichers schwebend 
und flüchtig um den Mittelpunkt, der nie in Ruhe ist. Unser Leben wurde zum 
Tummelplatz aller widerstreitenden Kräfte unseres Landes; die Monarchie als 
Makrokosmos spiegelte sich in unserm Mikrokosmos wider. So ist nun klar, daß der 
berühmten Heiterkeit und Sonnigkeit des Menschen unsrer Landschaft eine 
Melancholie gegenübertrat, eine Trauer, die nicht minder stark wurde als seine 
Heiterkeit. Diese österreichische Trauer – sie ist unsre Eigenart – ist „draußen“ nicht 
bekannt; diese Unkenntnis verstärkt das Mißverständnis, welches uns 
entgegengebracht wird. Unsre Trauer gründet sich in der bittern Erkenntnis, daß 
unsre Freude nicht ausreicht, um unsre Kräfte zu steigern. Wir fallen immer wieder in 
die Mittellage zurück, wir schweben, schweben mit der Trauer auf und nieder, 
können aber in ihr nicht vergehen. Wir stehen an der Grenze zwischen den letzten 
seelischen Trieben, die dem Menschen gegeben sind; zwischen dem 
Sichselbsterhöhenkönnen in Kraft und Glück und dem Sichselbstverlierenkönnen in 
der Vernichtung vollkommenen Leides. So lähmen wir die schöpferischen Kräfte 
unsrer Seele und haben daran zu tragen, da man nicht sieht, wie wir uns quälen.

Österreich, ein Land der „Mitte“, hatte das paradoxe Schicksal, mit dem Gegensatz 
dessen, was Mitte bedeutet, nämlich mit dem, was den Grenzlandcharakter einer 
Nation ausmacht (man denke zum Beispiel an Schlesien, das Elsaß usw.) sich 
auseinandersetzen zu müssen. Österreichs besondere Aufgabe war es, zu zeigen, 
dass sein staatliches Dasein  m i t    d e n    G r e n z e n  und ihren schwierigen 
Fragen  z u    r i n g e n    h a t t e,    d i e   \\ i m    e i g e n e n    L a n d    v o r h a n d e n     
w a r e n. Immer sah sich der Deutsche im Land einer Fremdheit gegenübergestellt, 
die Grenze bedeutet, und so wurde das „Reich der Mitte“ (Wien liegt ja sozusagen 
im Mittelpunkt Europas) zu einem Organismus, der von der ewig schwebenden, 
verfließenden und aufreibenden Grenzhaftigkeit seines Zustandes lebte und daran 
litt.  J e d e r    Ö s t e r r e i c h e r    d i e n t e    z e i t    s e i n e s    L e b e n s    i n    d e r    \\
F r e m d e n l e g i o n,    o h n e    d i e    H e i m a t    v e r l a s s e n    z u    h a b e n. 
Der Mensch unsrer Landschaft sprengt nicht in Leidenschaft und machtvollem Tun 
den Raum, der ihm gegeben. Er bleibt – historisch gesehen – im Lande, das 
gleichzeitig seine Heimat und die Stätte seiner Abenteuer ist. Sein Gemüt ist stets beschwingt, aber nie exzentrisch, sein Geist bewegt, aber nicht im Fluge auf einer Bahn dahineilend, sein Wille beschäftigt, aber nicht durch ein Ziel festgelegt, seine Politik kompliziert, aber nicht auf ein Entweder-Oder angelegt. Er lebt mitten im Grenzgewühl aller Schicksale, Lebensformen und aller geistig-seelischen Zustände. Niemals lebt er über sich hinaus, niemals zwingt er seine Art dem andern auf. Das macht ihn liebenswert. So sind wir Menschen der Mitte und Grenze zumal. 

Aus der tiefinnersten Erfahrung unsers Österreichertums, aus unserm Schicksal 
und Charakter haben wir uns jene völkerversöhnende und allgemein-menschliche Art 
erworben, welche die Welt an uns so sehr schätzt. Bewahrt unsre Jugend dieses 
Erbgut, dann wird sich ein Wahrspruch erfüllen: Österreich bleibt dann „das letzte 
Land auf der Erde“, das sich vom Zusammenhang mit dem Menschentum überhaupt 
zu lösen vermöchte. Ewig schwebt diese hohe Idee über der Welt, niemand vermag 
sie völlig zu ergreifen. Daraus und aus dem Wissen darum ist uns die Art 
überkommen, selbst schweben zu müssen und uns nicht in geruhsamer 
Bodenständigkeit ansässig machen zu können. Das also, was unser tragisches 
Verhängnis ist, weist uns im letzten Grunde auf ein Umfassendes, Höheres hin.  

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Erschienen in der __Kölnischen Zeitung__, 28.4.1931