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Gauß, Karl-Markus: Das Erste, was ich sah#

Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß spürt seinen eigenen frühkindlichen Prägungen nach - in intimen, sinnlichen Erinnerungsschlaglichtern, die das Große im Kleinen sichtbar machen.#


Von der Wiener Zeitung (Freitag 23. August 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Andreas Wirthensohn


Karl-Markus Gauß
Karl-Markus Gauß stellt sich die Frage: Wie wurde einer, was er ist und tut?
Foto: © Marko Lipus

Cees Nooteboom, der Grandseigneur der niederländischen Literatur, hat einmal den schönen Satz formuliert, die Erinnerung sei "wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will". Zwar gibt es immer noch Menschen, die glauben, unser Gedächtnis sei ein wohlgeordnetes Archiv, aus dem man nach Belieben bestimmte Erinnerungen hervorholen kann. In Wirklichkeit aber sind die Wege der Assoziation und Evokation von Vergangenem höchst verschlungen, und die Komplexität der erinnerungsauslösenden Sinneswahrnehmungen und Bewusstseinsvorgänge lässt sich vermutlich allenfalls literarisch einigermaßen adäquat darstellen.

Umso befremdlicher wirkt es, dass ausgerechnet Schriftsteller und Intellektuelle in ihren Memoiren gerne den Eindruck erwecken, das eigene Leben gleiche einem ordentlich beschrifteten Fotoalbum und die eigene Biographie lasse sich problemlos und kohärent als stimmige Lebens-Geschichte erzählen. Sinneswahrnehmungen

Karl-Markus Gauß verzichtet dankenswerter- und klugerweise darauf, so zu tun, als sei seine Kindheit ein farbenfroher, stringenter Erzählkosmos. Stattdessen präsentiert er uns schlaglichtartige Szenen eines Heranwachsens, die sich vor allem an Sinneswahrnehmungen festmachen.

Eine der allerersten Erinnerungen des Jungen ist die Stimme aus dem Rundfunkgerät, die in den 1950er Jahren Suchmeldungen über vermisste Soldaten verliest. Diese Stimme, "die heute nur in mir noch existiert, weil der Mann aus dem Radio längst tot und im Äther verrauscht ist, was er sagte, diese Stimme, die keinem Anwesenden gehörte und nach zahllosen Abwesenden fragte: sie war es, die in mir das Bewusstsein meiner selbst geweckt hat".

Und das "Erste, was ich sah, als ich aus dem Schlaf gerissen wurde, war der Vater, wie er die Bücher aus dem Fenster warf" und seinem Zorn ausnahmsweise einmal freien Lauf ließ. Der Vater, in Ungarn geboren, leitet die "Beratungsstelle für Volksdeutsche" in Salzburg, und sein Sohn, der 1954 zur Welt kommt, ist zu dieser Zeit der einzige gebürtige Österreicher der Familie.

Zuhause ist der kleine Karl-Markus umfangen von Stimmen mit osteuropäischem Zungenschlag, die Nachbarn sind nicht selten Heimatvertriebene, und auf den Straßen begegnet er fortwährend irgendwelchen Kriegsversehrten, die Gliedmaßen oder ihr Augenlicht in Russland oder sonstwo gelassen haben.

Karl-Markus Gauß sucht mit seinen intensiven Erinnerungsschlaglichtern nicht nach der verlorenen Kindheit, sondern nach den prägenden frühen Erlebnissen. Ein Bilderbuch lehrt ihn "die Sehnsucht nach der Fremde um den Preis der Angst vor dem Fremden", die Tiere, ob Schnecken oder Gelsen, führen ihm die Sterblichkeit und den Tod vor Augen, und schon als Kind verstößt Gauß geradezu lustvoll öffentlich gegen Gesetze und Normen.

Wie wurde einer, was er ist und tut? Und welche frühkindlichen Prägungen bleiben ein ganzes Leben lang wirksam? Diese Fragen stellt Gauß sich in seinem bislang wohl persönlichsten, intimsten Buch, das deutlich privater - und mitunter auch schonungsloser - von der eigenen Person spricht als selbst die Journale. Diese Intimität mag auch damit zu tun haben, dass Gauß, dieser homme de lettres sich hier in der Zeit seines Lebens betrachtet, in der die Buchstaben, das geschriebene Wort noch keine wirkliche Rolle für ihn spielten. Nicht ohne Grund lautet der letzte Satz: "Ich konnte jetzt lesen." Mit der Alphabetisierung scheint die "sinnliche" Entwicklung des Kindes, seine éducation sentimentale zu Ende zu sein.

Zauber und Schrecken#

"Granatsplitter" hieß jüngst eine brillante autobiographische Erzählung von Karl Heinz Bohrer, und wie Granatsplitter schillern und funkeln auch Gauß’ Erinnerungsminiaturen. Der Krieg, den das Kind nicht mehr erlebt hat, ist darin ebenso fortwährend präsent wie der Kalte Krieg, der die familiäre Vergangenheit geographisch abschneidet. Dem Autor gelingt der Spagat, die kindliche Perspektive mit der des sich erinnernden Erwachsenen zu vereinen. Ebenso selbstironisch wie liebevoll präsentiert sich der Künstler als ganz junger Mann inmitten einer Welt, deren Zauber und Schrecken noch in den nebensächlichsten Ereignissen eindrücklich sichtbar werden. Ein kleines großes Buch.

Information#

Karl-Markus Gauß: Das Erste, was ich sah. Zsolnay Verlag, Wien 2013, 108 Seiten, 15,40 Euro.

Wiener Zeitung, Freitag 23. August 2013