!!!Der Zurück-Eroberer: Literaturnobelpreis für Abdulrazak Gurnah 



!!Der Literatur-Nobelpreis 2021 geht an Abdulrazak Gurnah. In Sansibar geboren und nach England ausgewandert, arbeitet er in seinen Büchern daran, die erzählerische Autorität über Afrikas Geschichte wieder zurückzuholen.

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''Von der [Wiener Zeitung|http://wienerzeitung.at] (7. Oktober 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt''


Von

__Christina Böck__

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Der Schriftsteller Joseph Conrad hat den Literatur-Nobelpreis nie bekommen. In seinem Buch "Herz der Finsternis" begleitet er den Leser in den ausgebeuteten Kongo und zeichnet ein infernalisches Bild der Kolonialisierung Zentralafrikas, das in der Weltliteratur nachhaltig prägend war. Es war ein westlicher Blick auf Afrika, einer der zwar die Barbarei anprangert, aber Kolonialisierung an sich nicht verurteilt.

Fast ein Jahrhundert später hat Abdulrazak Gurnah seinen Roman "Paradise" ("Das verlorene Paradies") geschrieben. Darin erzählt er vom jungen, in Tansania geborenen Burschen Yusuf, der – als unbezahlter Diener zur Schuldenbegleichung seines Vaters – mit seinem Onkel Aziz, einem Kaufmann, in einer Karawane ins Landesinnere zieht. Dort, im Kongobecken, treffen sie auf konkurrierende afrikanische Kulturen und Religionen, auf Stammeskriege, auf gefährlichen Aberglauben, auf Krankheiten und Kindersklaverei. Yusuf sieht eine Welt, deren Ende nur mehr eine Frage der Zeit ist, das europäische Eindringen hat sie ausgehöhlt und brüchig gemacht.

Gurnah fängt diesen Moment, als all die Probleme, die sich noch heute im postkolonialistischen Afrika auf irgendeine Weise auswirken, an ihrem Entstehungszeitpunkt kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs ein und gibt damit eine Antwort auf Joseph Conrad. Und anders als Conrad wurde Abdulrazak Gurnah unter anderem dafür am Donnerstag der Literatur-Nobelpreis verliehen.

!Überraschende, aber zeitgemäße Wahl

Abdulrazak Gurnah wurde 1948 ins Sansibar geboren. Ende der Sechziger Jahre kam er als Flüchtling nach Großbritannien. Das Ende des Kolonialismus in seiner Heimat bedeutete für ihn Abschied und Neubeginn: Nach der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft wurden in Sansibar Bürger arabischer Herkunft, zu denen Gurnah zählt, unterdrückt und verfolgt.

Mit 21 Jahren begann er zu schreiben, seine Bücher verfasste er auf Englisch, nicht in seiner Muttersprache Swahili. Seit seinem 1987 erschienenen Debüt "Memory of Departure" hat Gurnah zehn Romane und eine Reihe von Kurzgeschichten veröffentlicht. Bis vor Kurzem war er Professor für Englische und Postkoloniale Literaturen an der University of Kent, Canterbury. Er forschte unter anderem zu Salman Rushdie, V.S. Naipaul, Anthony Burgess und – Überraschung – zu Joseph Conrad.

"Paradise" ist ein gutes Beispiel dafür, warum die Entscheidung der Schwedischen Akademie, – so überraschend sie für viele gewesen sein mag – doch eine sehr zeitgemäße Wahl ist. Vieles kommt im Dialog zwischen Afrika und Europa derzeit in Bewegung – angefangen von den Neubewertungen von Raubkunst in Museen. Eine neue Generation an Künstlern und Intellektuellen drängt mal kämpferisch, mal unverkrampft. zu einem neuen Selbstverständnis.

Der Roman "Paradise" war bereits 1994 der Versuch, die erzählerische Autorität über die eigene Geschichte, die eigene Kultur und auch die eigenen Verfehlungen wieder an sich zu nehmen. Nachdem sie jahrzehntelang in den Händen westlicher Autoren gelegen ist. Auch wenn die Qualität dieser Autoren, etwa Joseph Conrad, unangezweifelt ist – darum geht es gar nicht. Eines der großen Themen der postkolonialen Debatte ist jenes, wie Geschichten und Geschichte von außen, ausschließlich aus westlicher Perspektive geschrieben wurden und werden. Wie Klischees und Stereotypen sich verselbstständigen. Wie ganze Epochen aus der Geschichtsschreibung verschwinden, weil sie nicht von westlichem Interesse sind. Autoren wie Abdulrazak Gurnah arbeiten seit langem daran, dass sich das ändert. Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt, ihn durch den Literatur-Nobelpreis einer angemessenen Öffentlichkeit vorzustellen.

!Kulturelle Kluft von Migrationsschicksalen

Das zweite große Lebensthema Gurnahs und zugleich ein schwelendes Phänomen unserer zeitgenössischen Gesellschaft ist die kulturelle Herausforderung, die ein Migrationsschicksal mit sich bringt. Die Schwedische Akademie erwähnte diesen Aspekt seiner Arbeit, "sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten" explizit.

Im Roman "Donnernde Stille" (1996) erzählt er etwa von einem Mann, der nicht wenig an ihn selbst erinnert. Nach Jahren in England, wo er sich eine Existenz erarbeitet hat, kehrt ein Mann zurück in seine Heimat Sansibar. Um dort festzustellen, dass er nicht mehr dazugehört, dass er nicht mehr zu seiner Familie passt, dass seine Wurzeln nur mehr lose an ihm herunterhängen. Dabei schafft es Gurnah aber auch, Humor in den Differenzen unterzubringen.

Gurnahs jüngstes Buch "Afterlives" erschien im vergangenen Jahr, und es führte ihn zurück an den Beginn des 20. Jahrhunderts – und schließt sozusagen bei "Das verlorene Paradies" an. Es erzählt von den Grausamkeiten der deutschen Kolonialherrschaft unter anderem im heutigen Tansania und konzentriert sich auf die sogenannte Schutztruppe, für die Afrikaner rekrutiert wurden, um ihre eigenen Landsleute zu schikanieren und terrorisieren. Gurnah gelingt es in "Afterlives", die Abhängigkeiten und Sehnsüchte, die diese besonders abgefeimte Beziehungsvariante zwischen Unterdrücker und Unterdrückten, packend herauszuarbeiten – und die Folgen, die dieses Trauma für nachfolgende Generationen individuell und gesellschaftlich zeitigt.

!Derzeit keine Bücher auf Deutsch lieferbar

"Afterlives" ist nicht auf Deutsch erschienen. Oder, vielleicht kann man jetzt zumindest sagen: noch nicht auf Deutsch erschienen. Fünf seiner Bücher wären theoretisch ins Deutsche übersetzt, sind aber nicht lieferbar. Gurnahs österreichischer Übersetzer Helmuth A. Niederle sagte der APA auf die Frage, warum nicht mehr Übersetzungen von Gurnahs Literatur vorliegen, als Grund sei ihm aus der Verlagswelt vermittelt worden: "Es gibt eben Namen, die im deutschen Sprachraum nicht funktionieren."

Vielleicht schafft es der Literatur-Nobelpreis nun, dieses Vorurteil zu durchbrechen. Nicht nur bei Gurnah, sondern auch bei anderen Autoren und Autorinnen, die aus afrikanischen Perspektiven erzählen und einen ganz neuen Horizont eröffnen würden.

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[Wiener Zeitung|http://wienerzeitung.at], 7. Oktober 2021
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