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Alfred Adler (1870-1937)#


Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus dem Buch: Große Österreicher. Thomas Chorherr (Hg). Verlag Carl Ueberreuter, Wien. 1985.



Womit mag es zusammenhängen, dass sich im Wien der Jahrhundertwende nicht nur die Genies, sondern auch die Seelenärzte ballten? Die Stadt, die über die Zeiten hinweg eine der höchsten Selbstmordraten Europas, ja der Welt verzeichnet, ist nicht von ungefähr Geburtsstätte der Psychoanalyse geworden – und der Individualpsychologie. „Die Seele ist ein weites Land“, schrieb zur gleichen Zeit Arthur Schnitzler. Dem Fin de siecle in der Reichshaupt und Residenzstadt, in der Kaiserstadt Wien, war ein Hauch von Morbidität eigen. Nur im Wien des Aufbruchzeitalters konnte Sigmund Freud seine Theorien entwickeln, seine Schüler, Freunde, Kollegen um sich sammeln, jeden Mittwochabend in seiner Wohnung Fachdiskussionen veranstalten.

Und nur in Wien konnte einer dieser Kollegen und Freunde Sigmund Freuds sich gleichsam abspalten, eine eigene Lehre entwickeln und dieser ebenfalls zu weltweiter Anerkennung verhelfen: Dr. med. Alfred Adler, Sohn eines Getreidehändlers, aufgewachsen in Rudolfsheim, Humanist, Sozialist – und Verfechter der Theorie, dass der Mensch, von Natur aus gut, schon in frühester Kindheit seine Lebenslinie, sein Lebensziel erfasse, dass er Gemeinschaftsgefühl besitze und dass alle nervösen, neurotischen Störungen im Grunde nur Folgen eines Minderwertigkeitsbewusstseins seien, das es durch Erziehung rechtzeitig zu beheben gelte.

Alfred Adler ist ursprünglich Augenarzt gewesen, später Internist, und hat sich unter dem Einfluss Freuds erst später der Seelenheilkunde zugewandt. Aus enger Freundschaft wurde später freilich bald wissenschaftliche Gegnerschaft, die schließlich zum Bruch führte. "Glauben Sie, dass es ein so großes Vergnügen für mich ist, mein ganzes Leben lang in Ihrem Schatten zu stehen?" soll Adler einmal zu Freud gesagt haben.

Der wieder "revanchierte“"sich viele Jahre später in einem Brief an den Schriftsteller Arnold Zweig, dem er nach dem Tod Adlers in Schottland schrieb: „Für einen Judenbub aus einer Wiener Vorstadt ist ein Tod in Aberdeen schon an sich eine unerhörte Karriere und ein Beweis dafür, wie weit er es gebracht hat. Tatsächlich hat ihn die Welt reich dafür belohnt, dass er sich der Psychoanalyse entgegengestellt hat.“

Entgegengestellt? Alfred Adlers Individualpsychologie ist keine "Gegenschule" zur Psychoanalyse Freuds, die stellt nur die Fragen anders. Dort, wo Freud die Sexualität zur Wurzel aller Neurosen macht, ortet Adler das Minderwertigkeitsgefühl. Und nicht das Woher und Warum will es erfragen, sondern das Wozu und Wohin. Für ihn ist der Mensch, sind seine seelischen Regungen und Entwicklungen primär etwas Positives – Minderwertigkeitsgefühl und Minderwertigkeitskomplex (wer weiß, wenn er diese heute so gebräuchlichen Ausdrücke verwendet, dass sie von Alfred Adler stammen?) werden durch Leistung „kompensiert“.

Alfred Adler meinte, dass einerseits alle seelischen Erkrankungen durch gestörtes, behindertes Geltungsstreben verursacht würden, dass andererseits aber alle Großtaten der Kultur und der Technik Folgen der Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls seien. Kulturelle Überkompensation führe schnurstracks hin zum Genie.

Alfred Adler, selbst eines von sechs Kindern, hat die praktische Anwendung seines Lehrgebäudes nicht zuletzt im Erziehungswesen gesehen. Die „Erziehung zum Erzieher“ ist für ihn eine der wichtigsten Voraussetzungen der Psychohygiene. Das, was er Neurosenprophylaxe nennt, ist für ihn die Heranbildung körperlich und geistig gesunder, freier, beweglicher Kinder – beweglich in jeder Bedeutung des Wortes.

Alfred Adler ist, so besehen im Grunde auch der Vater der antiautoritären Erziehung, freilich in anderem Sinn als dem heute gebräuchlichen und ebenso häufig falsch verwendeten. Antiautoritär – das bedeutete für ihn Liebe, Verständnis, der absolute Verzicht auf körperliche Züchtigung, statt dessen „heilen und bilden“. Die Erziehungsberatung ist für ihn der bedeutsamste Schritt zur seelischen Gesundheit der Nachfahren.

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der österreichischen Wissenschaftsgeschichte, dass Alfred Adler es in seiner Heimatstadt Wien nie zu einer Dozentur gebracht hat. Der Autor so grundlegender Werke wie „Über den nervösen Charakter“, „Menschenkenntnis“ und lndividualpsychologie in der Schule“ ist beim Versuch, sich an der Universität Wien zu habilitieren, gescheitert, und zwar auf Grund eines negativen Gutachtens des Nobelpreisträgers Wagner von Jauregg (der seinerseits wieder ein enger Freund von Sigmund Freud gewesen ist).

Um so mehr ist Adler auf volksbildnerischem Gebiet tätig gewesen, er hat am Pädagogium der Stadt Wien eine Dozentur innegehabt, und in seinen späteren Lebensjahren hat der Vater der Individualpsychologie zahlreiche Auslandsreisen unternommen, da seine Lehre längst weltweit nicht nur bekannt, sondern auch anerkannt war.

Schon 1926 erhielt er eine Gastprofessur am Medial Center der Columbia-Universität in New York, 1935 gründete er das "International Journal of Individual Psychology", das die "Wiener Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie" ergänzte. Er brachte damals die halbe Zeit des Jahres in den USA, die andere Hälfte in Europa zu, 1934 übersiedelte er – ahnend, welchem Schicksal der alte Kontinent entgegenging – zur Gänze nach Amerika. Während einer Vortragsreise erlag er am 28. Mai 1937 in Aberdeen einem Herzversagen.

Alfred Adler, der Vater der Individualpsychologie, ist nie das gewesen, was man einen vergeistigten Wissenschaftler nennen würde. Er war vielmehr so etwas wie ein Urwiener – vom Habitus her, von der Sprache, vom Äußeren. Seine Vorträge hielt er stets in freier Rede, er verstand es, seine Zuhörer zu fesseln, er war selbst der Idealtyp des Erziehers, den heranzubilden er sich zur Aufgabe gestellt hatte.

Als junger Mensch fühlte Adler sich zum Marxismus hingezogen, er heiratete eine revolutionäre Russin, aber er hat nie "politisiert", er war Arzt und Erzieher, fand freilich im sozialdemokratischen Wien der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg den geeigneten Nährboden für seine Lehre und eine fruchtbare Wirkungsstätte für die Praxis. Auch nachher, in Amerika und auf seinen Weltreisen, hat er sein Wiener- und Österreichertum nie verleugnet, im Gegenteil, er hat es stolz produziert.


Und er hat mitgeholfen, den Ruf seiner Heimatstadt als Wiege der Seelenheilkunde weltweit zu festigen.