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"Im Alter kann man ehrlich sein"#

Carl Djerassi, Miterfinder der "Pille", über seine neue Autobiografie und die Zukunft der Fortpflanzung#


Mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung, Donnerstag, 25. April 2013

Von

Eva Stanzl


"In 100 Jahren wird es keine Verhütungsmittel mehr zu kaufen geben."#

Carl Djerassi
Carl Djerassi: "Sex und Fortpflanzung haben nichts mehr miteinander zu tun."
© Robert Newald

"Wiener Zeitung": Am Dienstag erhielten Sie ein Ehrendoktorat der Universität für Angewandte Kunst in Wien, kommende Woche folgt eines der Sigmund Freud Privatuniversität. Wie viele Ehrendoktorate haben Sie nun?

Carl Djerassi: Meine letzten fünf Ehrendoktorate bekam ich von österreichischen Universitäten, angefangen hat die Technische Universität Graz. Jenes der Sigmund Freud Privatuniversität wird das Dreißigste sein.

Haben Sie den Eindruck, dass alle Ehrungen sich spezifisch auf Ihre Leistungen beziehen?

Ein oder zwei Ehrendoktorate bekommt man, weil man Absolvent oder Professor war. Sind es fünf, zehn oder 100, gibt es andere Gründe. In den vergangenen 20 Jahren war ich kein Wissenschafter - Medieninterviews beziehen sich zwar immer auf die Pille, aber ich war 28 Jahre, als ich sie miterfand. Ehrendoktorate bekam ich dennoch von Universitäten vieler Länder, und die österreichischen hätten es schon Jahrzehnte früher tun können. Immerhin bin ich hier geboren und wurde rausgeschmissen. Ich glaube, dass jedes späte Ehrendoktorat aus Österreich in gewissem Sinn eine Entschuldigung ist. Besonders gefreut habe ich mich über jenes der Universität Wien, wo ich ohne Frage studiert hätte. Man schenkte mir ein Doktorat, für das ich gerne gearbeitet hätte.

Bei nicht allen Persönlichkeiten entschuldigt man sich so oft. Welchen Stellenwert hat Versöhnung für Sie?

Im August kommt anlässlich meines 90. Geburtstags meine neue Autobiografie heraus, "Der Schattensammler". Ein Kapitel heißt "Heimat(losigkeit)". Heimat hat viel mit Beziehungen zu tun und bedeutet, dass die Leute einen annehmen, weil man ein Mitglied dieser Heimat ist, oder dass man selbst jemanden annimmt als deren Mitglied. Die Beziehung wurde natürlich total zerstört während der Nazizeit. Eine meiner Schattenseiten ist, dass ich immer Anerkennung erfahren will. Ich will den Beweis, dass ich angenommen werde, vielleicht auch, weil ich in vielen Beziehungen ein Außenseiter war, auch wissenschaftlich habe ich in Grenzgebieten gearbeitet.

Ich habe einen Roman geschrieben, "Ego", über einen Autor, der immer den Beweis will, dass andere auch eine so eine hohe Meinung von ihm haben, wie er von sich selbst. Er denkt, die wirklich ehrliche Meinung könne er herausfinden, wenn er seine eigenen Nachrufe liest. Der Mann inszeniert seinen Tod und lebt weiter unter einem Pseudonym, um zu warten, was Leute über ihn schreiben. Aus dem Pseudonym wird ein Heteronym, die Person bekommt eine ganz andere Persönlichkeit, und die Heteronyme korrespondieren miteinander, rezensieren einander.

Leben Sie in Heteronymen?

Ich würde das gerne, tue es aber nicht wie Fernando Pessoa. Ich habe fünf Romane und neun Theaterstücke geschrieben. Die Themenwahl und wie die Personen sich benehmen, sind Gedanken über Carl Djerassi mit Carl Djerassi, da ich über Themen spreche, die ich mir sonst nie erlaubt habe, öffentlich zu äußern. Zum Beispiel, was bedeutet es, Jude zu sein für jemanden, der nicht religiös ist. Im "Schattensammler" habe ich ein Kapitel: "Jude", mit Anführungszeichen, oder quasi sechs Buchstaben. Wer steckt die Anführungszeichen hin und wer nimmt sie ab? Es ist nie die Person selbst, sondern andere. Seit Jahren ist mein Schreiben eine Auto-Psychoanalyse. Sigmund Freud würde sich im Grabe umdrehen, denn es ist ein bisschen so, als würde man zwischen Couch und Psychiater-Stuhl ständig die Plätze wechseln.

Worauf bezieht sich der Titel "Der Schattensammler"?

Ein Schatten ist dunkler als das Licht, und um einen Schatten zu haben, benötigt man einen Gegenstand. Für mich illuminieren die dunklen Seiten einer Person oder eines Ereignisses das Licht. "Schattensammler" heißt, ehrlich über die negativen Aspekte des Analysanden Carl Djerassi zu sprechen, selbstkritisch, aber mit Galgenhumor. Tränen sind nicht dabei, vielleicht etwas Bitterkeit, aber nicht Tränen. Wahrscheinlich hat sich der Verlag etwas anderes erwartet. Aber ich bin älter, weise, klüger geworden, und in meinem Alter kann man es sich leisten, ehrlich zu sein, weil es spielt keine Rolle mehr.

Ich fange das Buch an mit dem Kapitel "Freitod". Das ist nicht sympathisch, aber echt. Ich beginne mit "Berichten" über meinen Freitod am Tag vor meinem 100. Geburtstag, schreibe über den Selbstmord meiner Tante und jenen meiner Tochter. Als ich mein Labor geschlossen habe, habe ich eine Flasche Kaliumcyanid mitgenommen. Nicht, weil ich Selbstmord begehen will, sondern weil ich die Möglichkeit dazu haben will, wenn es notwendig sein sollte, etwa bei Demenz. Das Malheur wäre nur, dass ich mich dann nicht mehr erinnern könnte, wo ich die Flasche versteckt habe.

Wie analysiert ein Naturwissenschafter sich selbst?

Insbesondere Chemiker analysieren die Welt durch Moleküle und nicht anhand von Menschen. Wir denken wenig an unser eigenes Benehmen, sondern nur an das Benehmen der Welt. In dieser Hinsicht habe ich mich geändert.

Warum wurden Sie Chemiker?

Ich war das einzige Kind zweier Ärzte, die annahmen, dass ich Arzt werde - jüdische Mütter sagen gerne "Mein Sohn, der Doktor". Als wir in die Staaten flohen, musste ich aber ins College für ein Vorstudium mit Chemie, Physik und Biologie. Da ich kein Geld hatte, arbeitete ich nachher ein Jahr als Chemiker bei der Pharmafirma Ciba, machte Forschung und entdeckte eines der ersten Antihystaminika. Sofort erfolgreich zu sein, war fantastisch. Ich verdiente aber nicht genug, um Medizin zu studieren, nahm daher ein Stipendium von der University of Wisconsin an für ein Doktorat in Chemie. So bin ich Chemiker geworden - es war überhaupt kein Traum. Hätte ich ein neues Leben, würde ich in die Neurowissenschaften gehen.

Die Pille stimmte zunächst nicht mit moralischen Vorstellungen der Zeit überein. Auch heute gibt es ethische Bedenken gegen neue medizinische Techniken. Sind sie gerechtfertigt?

Natürlich. Wissenschafter spielen Gott. Allerdings tun sie das schon seit mehr als 100 Jahren. 1900 wurden die Menschen halb so alt wie heute und das hat nicht der liebe Gott bewerkstelligt, sondern die Mediziner, und die Menschen haben es gebraucht. Niemand wusste aber, dass es eine Folge der therapeutischen Revolution mit Antibiotika sein wird, dass die Menschen so lange leben, bis sie Alzheimer bekommen. Es ist also eine richtige, total wichtige Frage. Dumm ist nur, eine richtige Antwort zu erwarten. Denn wer hat das Recht, eine solche Antwort zu geben? Sie sind die Gruppe, die findet, dass man etwas nicht tun oder erlauben sollte, und ich bin die Gruppe, die die Anwendungen interessieren, und die dafür ist. Sie haben aber kein Recht, mir zu sagen, dass ich nicht das Recht habe, das zu erwarten.

Sie haben schon früh vorhergesagt, dass junge Frauen ihre Eizellen einfrieren würden, um später darauf zurückzugreifen. Das ist heute medizinisch möglich. Wie sieht nun Ihr Blick in die Zukunft aus?

Die Idee, dass Sex und Fortpflanzung untrennbar verbunden sind, wurde vor der Verhütung geboren. Künftig werden wir mehr Sex haben wegen der Trennung von Sex und Fortpflanzung. Die Aktivitäten haben nichts mehr miteinander zu tun. Liebe, Lust und Freude: Wir sind so geboren. Es ist kein Zufall, dass wir fast die einzige Spezies sind, die Sex jeden Tag haben kann: Hunde können das nicht, Fische auch nicht.

In 100 Jahren wird Verhütung kein Thema sein, es wird keine solchen Präparate mehr zu kaufen geben. Junge Menschen werden ihre Eier und Spermien einfrieren, um sie zu benutzen, wenn sie Kinder haben wollen. Frauen werden mit 35, 40 oder 45 Jahren das eigene, junge, als genetisch gesund diagnostizierte Ei gebrauchen. Und nachdem man seine Geschlechtszellen auf eine Bank gelegt hat, ist es doch klug, sich sterilisieren zu lassen, damit man keine Verhütung braucht. Die Bereitschaft dazu wird steigen. Heute finden weltweit alle 24 Stunden 1,4 Millionen Befruchtungen statt, die Hälfte davon unerwartet und davon die Hälfte unerwünscht. Und von dieser unerwünschten Hälfte werden 70 bis 80 Prozent abgetrieben. Das wird sich ändern.

Zur Person#

Carl Djerassi, geboren 1923 in Wien, ist Chemiker und Schriftsteller. Er ist der Sohn des Ärzte-Ehepaars Alice Friedmann, eine aschkenasische Jüdin aus Wien, und Samuel Djerassi, sephardischer Jude aus Bulgarien. 1938 wanderte er mit seiner Mutter in die USA aus. Djerassi und Luis E. Miramontes gelang es Anfang der 1950er Jahre, das Sexualhormon Norethisteron künstlich herzustellen. Mit Gregory Pincus und John Rock entwickelten sie damit 1951 die erste Antibabypille. Djerassi lehrt an der Stanford University, er brachte es auf 1200 wissenschaftliche Publikationen. Seit den 1980er Jahren veröffentlicht er Lyrik, Romane und Theaterstücke.

Wiener Zeitung, Donnerstag, 25. April 2013