!!!Anatomie einer  Eskalation  

!!Worum es bei den  jüngsten Auseinandersetzungen  in Wien-Favoriten tatsächlich  ging. Und was nun  zu tun wäre. Ein  Gastkommentar.  

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''Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: [Die Furche|Austria-Forum/Die_Furche] (9. Juli 2020)''


Von

__Thomas Schmidinger  __

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[{Image src='wolfsgruß.jpg' caption='Ethnie oder Politik? Der in Österreich verbotene „Wolfsgruß“ wurde bei den Ausschreitungen in Favoriten vielfach gezeigt. Letztlich handelt es sich um keinen ethnischen, sondern um einen politischen Konflikt.\\Foto: Name. Aus: [Wikicommons|https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schweigefuchs.jpg]'alt='Ethnie oder Politik? Der in Österreich verbotene „Wolfsgruß“ wurde bei den Ausschreitungen in Favoriten vielfach gezeigt. Letztlich handelt es sich um keinen ethnischen, sondern um einen politischen Konflikt.' width='300' class='image_right' height='252'}]

Seit rechtsextreme türkeistämmige  Jugendliche  Demonstrationen  von Linken und Antifaschisten  im zehnten  Wiener Gemeindebezirk angegriffen  und Brandsätze ins linke  Kulturzentrum Ernst-Kirchweger-  Haus geworfen haben,  wird auch in der österreichischen  Öffentlichkeit  über die „Grauen  Wölfe“, vor allem aber über Kurden  und Türken diskutiert. Dazu  gibt es zwei diametral verschiedene  Sichtweisen:  Von der FPÖ,  vom Neo-Gemeinderatskandidaten  Strache und von der ÖVP  wurde der Konflikt im Wesentlichen  als Konflikt zwischen Kurden  und Türken wahrgenommen  und als „importierter Konflikt“  rezipiert. Von Grünen, Sozialdemokraten  und Linken wurde der  Konflikt als politischer Konflikt  zwischen Faschisten und Antifaschisten  gedeutet. Nebenher versucht  der ehemalige Integrationsstaatsekretär  und nunmehrige  Bundeskanzler die angeblichen  „Versäumnisse in der Integrationspolitik“  für die Ausschreitungen  verantwortlich zu machen.  Auf eine Konkretisierung,  was denn in der Integrationspolitik  versäumt worden wäre, für  die auch nach dem Aufstieg Kurzʼ  zum Kanzler seine Partei verantwortlich  war, warteten aufmerksame  Beobachter allerdings bislang  vergeblich.  

!Eingeladen zum runden Tisch?  

Die derzeit für Integration zuständige  Ministerin Susanne  Raab und Innenminister Karl Nehammer  (beide ÖVP) luden nun  zur Krisensitzung im Kanzleramt.  Laut Tageszeitung Kurier sollen  an dieser unter anderem die  „Türkische Föderation“ (Graue  Wölfe) und UETD, die „Föderation  der Arbeiter und Studenten“, die  „Föderation der Aleviten“ und die  „Türkische Kulturgemeinde“ teilnehmen.  Vom größten kurdischen  Dachverband „Feykom“ war bislang  nicht die Rede, genauso wenig  von der „Föderation Demokratischer  Arbeitervereine“ (DIDF),  deren Lokal im Ernst-Kirchweger-  Haus am zweiten Tag der Ausschreitungen  von den Grauen  Wölfen angegriffen worden war.  Mag sein, dass diese noch eingeladen  werden. Unter türkeistämmigen  politischen Aktivisten  gibt es seither jedenfalls Debatten  darüber,  wer eingeladen wurde  und wer nicht und ob man an  solcheinem  runden Tisch überhaupt  teilnehmen solle oder nicht.  

Zwischenzeitlich forderte die  ÖVP Wien die Schließung des  Ernst-Kirchweger-Hauses, also  jenes Hauses, das von den Rechtsextremisten  angegriffen wurde.  VP-Wien-Integrationssprecherin  Caroline Hungerländer ließ  über eine OTS-Aussendung ihre  Ansichten über das Angriffsziel  der Rechtsextremisten mitteilen.  „Mit der Schließung des  Ernst-Kirchweger-Hauses helfen  wir nicht nur, das Grätzl wieder  lebenswerter zu machen. Wir  setzen damit auch ein klares Zeichen,  dass Parallelgesellschaften  nicht gefördert werden.“ Favoriten  wird zum Thema für den  Wien-Wahlkampf. Da wird nicht  nur gegen die Opfer der Übergriffe  geschossen. Das ist auch  keine gute Voraussetzung für eine  rationale Integrationspolitik.  

Dabei gälte es, sich einmal genauer  anzusehen, wer hier wen angegriffen  hat – um ein genaueres  Bild der Situation zu bekommen.  Zunächst einmal gilt es festzuhalten,  dass keine der angegriffenen  Demonstrationen eine reine „Kurdendemo“  war. Unterstützer der  PKK nahmen an den Demonstrationen  teil, bildeten allerdings  einen  relativ kleinen Teil davon und  zeigten nie das in Österreich verbotene  Symbol der Nationalen Befreiungsfront  Kurdistans (ERNK),  sondern völlig legale Symbole, wie  die Fahnen der syrischen US-Verbündeten  YPG und YPJ. Deutlich  präsenter waren bei den meisten  Demonstrationen jene Vereine,  die auch im zehnten Bezirk ihre  Vereinslokale haben, nämlich im  bereits erwähnten Ernst-Kirchweger-  Haus: die „Föderation der  Arbeiter und Jugendlichen aus der  Türkei in Österreich“  (ATIGF) und  die Föderation Demokratischer  Arbeitervereine (DIDF) sowie verschiedenste  andere Wiener Linke  bis hin zu sozialdemokratischen  und grünen Kommunalpolitikerinnen.  

Auch wenn es unter den Mitgliedern  der ATIGF und der DIDF  viele Kurdinnen und Kurden gibt,  verstehen sich beide Vereine nicht  als kurdische, sondern als linke  Vereine aus der Türkei, die sich  per se als nichtethnisch verstehen.  Genau an dieser Frage entspannen  sich in der Vergangenheit  auch immer wieder Konflikte  zwischen solchen Organisationen  der radikalen türkischen Linken  und den kurdisch-nationalen Organisationen  wie der PKK.  

!„PKK-Terroristen“  

Die Föderation der Arbeiter  und Jugendlichen aus der  Türkei in Österreich wurde  von Mitgliedern der Türkischen  Kommunistischen Partei/  Marxisten-Leninisten  (TKP/ML),  einer maoistischen Partei aus der  Türkei, gegründet und hatte in  den 1980er Jahren nach dem Militärputsch  in der Türkei ihren  größten Zulauf. Die Föderation  Demokratischer Arbeitervereine  wurde 1980 als Vorfeldorganisation  der Revolutionären Kommunistischen  Partei der Türkei  gegründet, einer Partei, die sich  damals an der Politik der Albanischen  Kommunistischen Partei  unter Enver Hoxha orientiert.  Die während der Militärdiktatur  stark verfolgte Mutterorganisation  gibt es heute nicht mehr, allerdings  eine legale daraus hervorgegangene  linke Partei, die  Partei der Arbeit (EMEP). Viele  Mitglieder beider Organisationen  sind Aleviten aus Dersim, die sich  nur zum Teil als Kurden verstehen.  Trotzdem verbreitete sich innerhalb  der Anhängerschaft der  Grauen Wölfe in Windeseile der  Ruf, es handle sich dabei alles um  „PKK-Terroristen“. Auch in sozialen  Medien wurde von rechten  türkischen Funktionären bis weit  hinein in das AKP-Spektrum der  Mythos verbreitet, es handle sich  hier um „PKK-Terroristen“.  

Auch wenn die Opfer der Angriffe  keineswegs nur Kurden  waren  oder sich als Kurden verstanden,  spielte das antikurdische  Ressentiment der rechtsextremen  Jugendlichen definitiv  eine Rolle bei den Angriffen. Insofern  ist es zwar richtig, wenn Linke  betonen, dass es sich um keinen  ethnischen Konflikt handle.  Zugleich spielen allerdings antikurdische  Propaganda und von  Familien und Vereinen tradierte  Ressentiments gegen Kurden  sehr wohl eine Rolle bei den Tätern.  Und genau hier kommt auch  die Türkei ins Spiel.  

Die jugendlichen Täter sind in  Wien aufgewachsen, haben das  österreichische Schulsystem  durchlaufen, und viele von ihnen  haben vermutlich auch eine  österreichische Staatsbürgerschaft.  Allein schon deshalb  kann hier von keinem bloß „importierten  Konflikt“ gesprochen  werden. Zugleich spielt die Türkei  mit ihrer gezielten Diasporapolitik  eine Rolle dabei, auch noch Jugendliche  der zweiten und dritten  Generation mit nationalistischer  Kriegspropaganda zu beliefern.  Einige der nun ins Ministerium  geladenen Vereine spielen  dabei eine wichtige Rolle, allerdings  nicht nur diese. Für Jugendliche,  die zwar oft aus Familien  stammen, die in rechtsnationalistischen  Vereinen organisiert  sind, allerdings selbst oft keine  Vereinsmitglieder sind, sind etwa  türkische Medien oder eine  rechtsnationalistische Musikszene  noch bedeutender als alternde  Vereinsfunktionäre.  

Dass die in den letzten Jahren  immer autoritärer gewordene  türkische Regierung mittlerweile  fast alle türkischen Medien  gleichschalten konnte und selbst  in Europa mit Thinktanks wie  SETA  die öffentlichen Diskurse  dirigiert, beeinflusst auch die  Debatten in der Diaspora. Vielleicht  wäre es an der Zeit, dem mit  der gezielten Förderung demokratischer  Medien in türkischer  Sprache etwas entgegenzusetzen.  

''Der Autor ist Politikwissenschaftler  an der Universität Wien.''

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[Die Furche|Austria-Forum/Die_Furche], 9. Juli 2020
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[{Metadata Suchbegriff='rechtsextreme türkeistämmige Jugendliche, Demonstrationen, Linke, Antifaschisten, Türkei' Kontrolle='Nein'}]