!!!Tante Nationalrätin

Von 

__Heidi Brunnbauer__

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Nur aus den Erzählungen meiner Mutter und ihrer Schwestern
kannte ich sie, also vom Hörensagen, die Tante Mitzi, Schwägerin
meiner Großmama mütterlicherseits, häufig „Tante Nationalrätin“
genannt. In der Familie wurde stets mit Hochachtung von ihr gesprochen,
teils weil sie es so weit gebracht hatte und teils weil sie
Verwandten weiterhalf, für die sie oft die letzte Anlaufstelle war.
So kam in den 1920er Jahren meine Patentante Hilda von St.
Ruprecht bei Klagenfurt in die große Welt nach Wien. Das junge
Mädchen ohne Berufsausbildung wurde in der Familie ihrer
Tante – Großmamas Schwester, einer Hofratsgattin mit zwei sympathischen
Töchtern in Hildas Alter – freundlich aufgenommen.
Auf Vermittlung der Tante Nationalrätin hatte sie eine Stellung in
der Parlamentsküche als Kochlehrling erhalten und wurde zu einer
ausgezeichneten, begeisterten Köchin ausgebildet, die mit Stolz
immer wieder betonte, dass sie im Parlament kochen gelernt hatte.
Diese Wiener Zeit dürfte die schönste ihres Lebens gewesen sein.
Als ich im Jahr 2009 im Rahmen von Veranstaltungen zu „90
Jahre allgemeines Frauenwahlrecht in Österreich“ unter den ersten
Frauen im Parlament den Namen Marie Tusch las, wurde
ich aufmerksam. Das musste sie sein, die Tante Nationalrätin,
die nun meine Neugier und mein Interesse so sehr erregte, dass
ich Nachforschungen anstellte. Aus Parlamentsprotokollen und
veröffentlichten Texten bezog ich die wesentlichen Informationen;
Verwandte lieferten einige Details dazu. Über ihr persönliches
Schicksal war ich insbesondere als Mutter und Großmutter
erschüttert. 

!Aus einfachen Verhältnissen

Maria Pirtsch, das ledige Kind einer Bauernmagd,
1868 in Klagenfurt in Armut und Elend hineingeboren, hatte
die schlechtesten Startbedingungen für ihr Leben, die man sich
denken kann; und trotzdem schaffte sie aus eigenem Antrieb, ein
außergewöhnliches und erfülltes Leben zu führen.
Die Mutter versuchte sich und das Kind irgendwie durchzubringen,
ihm aber doch zu einer gewissen Erziehung zu verhelfen.
Über eine hilfreiche Vermittlerin brachte sie die Kleine mit sieben
Jahren in der Marien-Anstalt (Schule und Internat) des Klosters
Maria Saal bei Klagenfurt unter, gegründet 1873 von der Diözese
Gurk. Dort besuchte sie die Volksschule und musste als Beitrag
für Kost und Quartier im Wirtschaftswesen des Klosters arbeiten.

!Tabakarbeiterin

Ihre „Berufskarriere“ begann sie mit zwölf Jahren als Lohnarbeiterin
in der Klagenfurter Fabrik der k. u. k. Tabakregie in der
Bahnhofstraße (1944 durch Bomben zerstört) und verdiente ab
da ihren Lebensunterhalt selbst. Ihr Basiswissen verdankte Mitzi
der Volksschule im Kloster; alles Weitere erwarb sie sich autodidaktisch
und durch Schulungen in den Parteiorganisationen.
Die harten Arbeitsbedingungen für die fast 600 Tabakarbeiterinnen
und ein Hungerlohn für 54 Stunden Wochenarbeitszeit
schürten zwar den Unmut, doch wagten die Frauen kaum aufzubegehren
oder sich gegen das Unrecht aufzulehnen, da Entlassung
und damit finanzieller Ruin für die Familie drohte. Dazu kam die
Verachtung durch die bürgerliche Gesellschaft, die diese Frauen
dann als „Tschickmenscher“ beschimpfte.


Der jugendlichen Mitzi wurde bald klar, dass nur gemeinsame
Aktionen bessere Arbeitsbedingungen und eine Besserstellung der
Frauen bringen konnten. Im Laufe der Zeit wurde sie zunächst
Vertrauensfrau, dann Betriebsrätin und übernahm schließlich die
Leitung des Kärntner Frauenkomitees der Sozialdemokratischen
Partei Österreichs. Ihre politische Arbeit galt vor allem den Frauenrechten,
der sozialen Absicherung der Frauen und Mütter sowie
der Straffreiheit von Abtreibungen.

!Eine gute Rednerin

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Als Marie Tusch wurde sie nach der Heirat mit meinem Großonkel
Anton Tusch bekannt, der einerseits ihren Aktivitäten Verständnis
entgegenbrachte, andererseits kein Hehl daraus machte,
dass er sich als „nationaler“ Arbeiter empfand, was zu politischen
Disputen zwischen den Eheleuten führte. Marie Tusch hielt
mehrmals pro Jahr in Klagenfurt Versammlungen zur politischen
Information ab. Selbst in entlegenen Orten Kärntens hielt sie
Vorträge, die sie fast immer mit dem Aufruf schloss: „Frauen, ihr
müsst selbständig werden!“ Sie soll eine begabte und geschickte
Rhetorikerin gewesen sein, die stets die dargelegten Probleme mit
Einzelschicksalen veranschaulichte. Marie Tusch setzte sich aber
auch für die Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs ein. Ferner
konnte sie ihre Arbeitserfahrungen als Sachkundige in wirtschaftlichen
Fragen des österreichischen Tabakmonopols im Parlament
einbringen.

Sie wurde 1919 als eine von acht Frauen und einzige Nicht-
Wienerin zum Mitglied der Konstituierenden Versammlung (170
Abgeordnete) gewählt und war bis 1934 – mit dem Verbot der
Sozialdemokratischen Partei durch die Regierung Dollfuß und
dem Ende der demokratischen Ordnung – Abgeordnete zum Nationalrat.
Mithin war sie eine jener wenigen Abgeordneten, die
während sämtlicher vier Legislaturperioden des österreichischen
Nationalrats der Ersten Republik ununterbrochen dem Hohen
Haus angehörten. Darüber hinaus war sie Mitglied des Gemeinderates
von St. Ruprecht, das dann im Oktober 1938 in die Stadt
Klagenfurt eingemeindet wurde.

!“Mutter Theresa der Arbeiterschaft“

[{Image src='Nationalversammlung.png' height='270' class='image_right' caption='Blick in die Nationalversammlung' alt='...' width='369'}]

So mühevoll ihr Einsatz für ihre Arbeitsgenossinnen in der Jugend
war, so reichlich konnte sie in reiferen Jahren Anerkennung
und Dank für eine wichtige und verantwortungsvolle Arbeit in
der Ersten Republik ernten. Beim Festakt anlässlich ihres 60.
Geburtstages in Klagenfurt fehlte kein Frauenkomitee der Kärntner
Bezirke; aus Wien überbrachte Adelheid Popp (1869-1939,
Nationalrätin, bekannte Frauenrechtlerin, u. a. Begründerin der
proletarischen Frauenbewegung in Österreich) die Glückwünsche
der Bundesfrauenorganisation und des Parteivorstandes. In den
1920er Jahren hatte sich um die stets bescheiden und zurückhaltend auftretende Marie Tusch ein Mythos entwickelt, der mit einer
„Mutter Theresa der Arbeiterschaft“ bezeichnet werden kann,
schreibt Vinzenz Jobst in seiner Monographie „Marie Tusch. Lebensbild
einer Tabakarbeiterin“, Klagenfurt 1999.
Tante Mitzi führte trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten
mit ihrem Mann eine gute Ehe und hätte selbst gerne ihre
Kinder großgezogen. Sie verlor eigene Kinder durch Fehlgeburten
oder im frühkindlichen Alter. Nach dem Tod ihres vierten
Kindes trat sie 1920 aus der katholischen Kirche aus. Noch im
selben Jahr adoptierte das Ehepaar Tusch die damals siebenjährige
Margaretha Pichler, deren verzweifelte Mutter, eine junge Kellnerin,
sich in ihrer finanziellen Not an die Nationalratsabgeordnete
um Hilfe gewandt hatte. Gretl und Tante Mitzi blieben bis zum Tod in liebevoller Verbindung. Marie und Anton Tusch bauten in
Klagenfurt/Ebenthal, Flurgasse 11 ein Haus als Familienwohnsitz.
Gestorben ist die zarte Frau mit der Kraft einer Löwin 1939
im Alter von 71 Jahren an einer Lungenentzündung. Sie liegt mit
ihrem Ehemann Anton Tusch (1869-1954) und der Ziehtochter
(1913-1996) samt deren Ehemann, Schneidermeister Hornbogner,
auf dem St. Ruprechter Friedhof begraben.

Ich hätte sie gerne kennengelernt, die Tante Nationalrätin. Es
tut mir leid, dass ich in der Jugend nicht aufmerksamer die Erzählungen
vor allem meiner Patentante aufgenommen und sie im Gedächtnis
behalten habe. Tante Mitzi ist für mich heute jedenfalls
eine bewundernswerte Persönlichkeit, ein Vorbild an Willenskraft
und Durchsetzungsvermögen in ihrem sozialen Engagement.