Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Im Datengefängnis#

Wollen Sie wissen, ob Ihr Nachbar ehrlich und aufrichtig ist? In Shanghai gibt es eine App dafür.#


Von der Wiener Zeitung (Dienstag, 6. Juni 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Adrian Lobe


Symbolbild: digitale Überwachung
Überwachungskapitalismus made in China: keine Flucht vor digitaler Überwachung.
Foto: © fotolia

In seinem Roman "Super Sad True Love Story" entwirft Gary Shteyngart das Bild einer dystopischen Gesellschaft, in dem die Digitalisierung in eine Tyrannei der Transparenz gemündet ist. Frauen tragen durchsichtige Jeans und Büstenhalter, die Straßen sind mit Kreditmasten gepflastert, die die Bonität der Passanten auf einem Display anzeigen, die Menschen kommunizieren über ein sogenanntes "Äppärät", eine Weiterentwicklung des Smartphones, das Profildaten über Kreditwürdigkeit, Cholesterinspiegel, Lebenserwartung sowie den "Fickfaktor" anderer Menschen verrät.

Die Romanrealität ist der Wirklichkeit zum Verwechseln ähnlich. Die Stadtregierung von Shanghai hat vor wenigen Monaten eine App namens "Honesty Shanghai" lanciert, das die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ihrer Bürger misst. Das System funktioniert so: Man kreiert einen Account und loggt sich mit seiner nationalen Identifikationsnummer ein. Mithilfe eines Gesichtserkennungsalgorithmus gleicht die App personenbezogene Daten ab und spuckt innerhalb von 24 Stunden einen öffentlichen "Credit Score" aus: Sehr gut, gut oder schlecht.

Digitale Kopfnoten#

Zeig mir dein Gesicht, und ich sage dir, ob du ehrlich bist! Laut dem amerikanischen Nachrichtensender NPR greift das System für die Berechnung des Scores auf 3000 verschiedene Informationen aus fast 100 Regierungsdatenbanken zurück. Wer einen guten Score hat, erhält zur Belohnung einen Rabatt bei Flugtickets, wer einen schlechten Score hat, kann mit Schwierigkeiten rechnen - etwa dabei, einen Kredit zu bekommen.

Wie sich der Score berechnet, ist unklar. Gleichwohl ist die App Teil einer landesweiten sozialen Bonitätsprüfung. Die chinesische Staatsführung will bis 2020 ein verpflichtendes Bewertungssystem einführen, bei dem jeder Bürger einen "Score" zwischen 350 und 950 erhält. Digitale Kopfnoten, sozusagen. Der Wert berechnet sich nach der Kreditwürdigkeit, der politischen Meinung und der Social-Media-Aktivitäten.

Das Social Credit System (SCS), wie das Reputationssystem offiziell heißt, verknüpft dazu Daten von Banken, E-Commerce-Seiten und Sozialen Netzwerken wie Weibo. Wohin man geht, was man kauft, wie viel Strafpunkte man auf dem Führerschein hat - all das wird registriert und an die Identifikationsnummer gekoppelt.

Das Regime hat ein engmaschiges Überwachungsnetz gespannt, das jede Handlung im realen und virtuellen Raum erfasst. Mit dem Kauf bestimmter Produkte oder dem Posten konformer Kommentare steigt der Score. Wer regimekritische Äußerungen postet, dessen Score fällt. Auch das Fehlverhalten von Freunden in Sozialen Netzwerken wirkt sich negativ auf den Score aus. Mit 650 Punkten kann man einen Mietwagen ohne Kaution mieten. Mit 700 Punkten bekommt man schneller ein Visum nach Singapur. Und mit 750 Punkten ergattert man eine Einreiseerlaubnis in den Schengen-Raum.

Wer konsumiert und linientreu ist, bekommt Freiheiten. So funktioniert Überwachungskapitalismus in China. Das Reputationssystem macht deutlich, was passiert, wenn Big-Data-Technologien auf autoritäre Staatsformen treffen. Indem der Staat Punkte für gefälliges Verhalten gibt, definiert er nicht nur, was sozial erwünscht ist, sondern auch, wer ein guter und ein schlechter Bürger ist. Das Social-Credit-System hat zum Ziel, den Charakter jedes Einzelnen zu quantifizieren. Das Kontrollregime, das die Regierung ins Werk setzt, ist subtiler Natur: Man braucht nicht mehr den Knüppel, um die Bürger zu disziplinieren, es genügen Abzüge beim Score. Psychopolitik nennt das der Philosoph Byung Chul-Han. Die Regierung hat derweil eine Website gestartet, auf der man den Punktestand anderer Bürger überprüfen kann - etwa den des eigenen Nachbarn.

Der in Shanghai lehrende Professor Zhu Dake befürchtet, dass das landesweite Rating-System in einen "Credit-Totalitarismus" münden könne. "Wohin soll das führen? Die Regierung nutzt moderne Technologie, um eine Vision von Orwells ‚1984‘ zu kreieren", sagte er gegenüber NPR.

Die Kapitalisierung persönlicher Daten ist im kommunistischen China inzwischen so weit gediehen, dass man ganze Nutzerprofile erwerben kann. Für 700 Yuan (100 Euro) konnten chinesische Journalisten in einem Selbstversuch Informationen über einen Kollegen herausfinden. Abkassieren in Dystopia.

Wiener Zeitung, Montag, 22. Mai 2017