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Am Anfang war der Sinn #

Viktor E. Frankl hat als Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse vielen Menschen geholfen, durch Sinnerfüllung zu reifen und zu gesunden. Morgen jährt sich sein Todestag zum 20. Mal. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Kleinen Zeitung (Freitag, 1. September 2017)

Von

Helmut Graf


Viktor Frankl als Vortragender, 1967
Häufiger Gast an US-amerikanischen Universitäten: Viktor Frankl als Vortragender, 1967 (KK)

Frühsommer 1945: Der 40-jährige Viktor Frankl erlebt in München seine Stunde null nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager. Niemand hat auf ihn gewartet, weder seine junge Frau noch seine Eltern, sein Bruder, seine Schwägerin. Alle waren im KZ ermordet worden. „Ich hatte das Gefühl: Entweder geht man angesichts dieser Umstände hin, nimmt einen Strick und hängt sich auf, oder aber es gibt irgendwelche Gründe, die einen davon abhalten, und das war mein bedingungsloser Glaube an einen letzten Sinn, der uns zwar verborgen sein mag, aber da ist.“

Frankl wusste um die Leere, die ins Leben hereinbrechen kann. Gerade das Thema, das ihn weltberühmt machen sollte – der unbedingte Glaube an den Sinn im Leben – musste schwer erkämpft, ja erlitten werden. Frankl hatte in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts eine Denk- und Therapieschule entwickelt, welche die Sinnfrage als zentrale Motivationsquelle des Menschen in den Mittelpunkt rückt. Wozu – nicht warum – lebe ich? Er gab der Sinnfrage eine kopernikanische Wende. Nicht wir haben das Leben oder andere zu fragen, was wohl an Sinn angeboten werden kann, wir sind die Befragten. Wir sind aufgefordert, den Sinn in jeder Lebenssituation zu entdecken, gerade dann, wenn alles sinnlos erscheint.

Sinn ist die Grundlage der psychosozialen Gesundheit. Bewusst und unbewusst werden wir Menschen von der Sinnfrage begleitet. Wir sind so sehr auf ein Sinnerleben ausgerichtet, dass wir etwas nicht wollen, wenn wir darin keinen Sinn erkennen können. Sinn ist etwas so Tiefliegendes, dass er erst zum Problem wird, wenn er verloren gegangen ist. Mit dieser Erkenntnis war Frankl dem Denken seiner Zeit teilweise um Jahrzehnte voraus.

In letzter Zeit gibt es um die Resilienzforschung, die sich mit psychischer Widerstandsfähigkeit befasst, einen wahren Hype. Selbst in der Fachliteratur wird oft übersehen, dass sich Frankl schon lange vor den 70er-Jahren, also bevor Emmy Werner den Begriff Resilienz in den Diskurs einführte, mit dem Thema auseinandergesetzt hatte, obwohl der Begriff bei ihm nirgends vorkommt. Mit seinem Konzept „Trotzmacht des Geistes“ beschreibt er den wesentlichsten Faktor der psychischen Widerstandsfähigkeit, indem er dem passiven Ertragen (Nietzsches „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“) ein aktives „trotzdem Ja zum Leben“ entgegenstellt. Frankls Resilienzkonzept unterscheidet sich von zeitgenössischen Denkansätzen darin, dass die Widerstandsfähigkeit nicht das Ziel ist, sondern das Nebenprodukt einer bedingungslosen Sinnoffenheit, welche die natürlichen Selbstheilungskräfte fördert, selbst in unsagbarem Leid.

Schon in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sprach Frankl von einem sinnzentrierten Motivationskonzept, das nicht nur eine leistungsfördernde Komponente, sondern vor allem den für die Psychohygiene so wichtigen Faktor Arbeitszufriedenheit mit einschließt.

Frankl hat in den 30er-Jahren das seelische Elend einer Überflussgesellschaft vorausgeahnt, zu einer Zeit, als sich jeder der Illusion hingab, dass Wohlstand und Luxus seelische Zufriedenheit verbürgen.

Er hat in den 40er-Jahren den engen Zusammenhang zwischen Wertverlust und Schwächung des Immunsystems vorausgeahnt, zu einer Zeit, als die Psychosomatik-Forschung noch in den Kinderschuhen steckte.

Frankl hat in den 50er-Jahren betont, dass Selbstbeschränkung und freiwilliger Verzicht lebensnotwendige Fähigkeiten zur Erhaltung des inneren und äußeren Gleichgewichts sind, zu einer Zeit, als man an Wirtschaftswunder und unbegrenztes Wachstum glaubte.

Auf diese Weise hat Frankl auch wesentlich den Psychologen und Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi beeinflusst, der eine Flow-Theorie entwickelte, auf die sich heute Spitzensportler(innen) vermehrt beziehen: „Ich war so richtig im Flow“, sagen sie und beschreiben das Gefühl eines Zustandes völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in der sportlichen Tätigkeit.

Frankl hat auch Aaron Antonovsky, den Begründer des Salutogenese-Modells, inspiriert. Dessen zentrale Fragestellung war, welche Faktoren und Wechselwirkungen für die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit ausschlaggebend sind. Nach Antonovsky spielt dabei das sogenannte Kohärenzgefühl, das Gefühl einer globalen Grundorientierung, eine zentrale Rolle, wobei das Gefühl der Sinnhaftigkeit ein wesentlicher gesundheitserhaltender Faktor ist.

Bis ins hohe Alter stellte sich Frankl den Nöten der Zeit, der Pathologie des Zeitgeistes. Woran das Krankmachende zu erkennen ist, hat er mit dem Phänomen des Konformismus, Totalitarismus und Reduktionismus erklärt. Konformismus heißt für Frankl: Wollen, was die anderen tun; Totalitarismus bedeutet: Tun, was die anderen wollen. Reduktionismus heißt: Denken, als ob es nichts anderes gäbe als das, was gerade eben gedacht, gesagt und getan wird.

Nur mehr zu wollen und zu tun, was uns verantwortungslose Narzissten – es darf dabei an die Trumps, Erdŏgans, Kim Jong-uns dieser Welt gedacht werden – als die einzige Wahrheit darbieten, hat nur eines zur Folge: Das Sinnbedürfnis wird systematisch geleugnet oder erst gar nicht bedacht.

Diesen verhängnisvollen Tendenzen sind wir aber nicht bedingungslos ausgesetzt. „Der Mensch ist also nicht nur von den sozioökonomischen und politischen Bedingungen geprägt, sondern auch fähig, sie zu gestalten, sie umzugestalten“, schreibt Frankl. „Er muss keineswegs ihr Opfer sein und bleiben. Vielmehr kann er ja ihr Schöpfer werden.“ Nach Frankl sind diese existenziellen Fehlhaltungen auf zwei Persönlichkeitsmerkmale zurückzuführen: Scheu vor Verantwortung und Flucht vor der Freiheit. Entweder ich stelle mich dem, was mir das Leben aufgibt – ich lebe also – oder ich gebe mich selber auf und werde gelebt.

Frankl mit Frau
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Viktor Frankl
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Karriere und Deportation#

Viktor Frankl, geboren 1905 in Wien, Medizinstudium, Kontakte zu Freud und Adler. Von 1933 bis 1937 leitete er im Psychiatrischen Krankenhaus den „Selbstmörderinnenpavillon“. 1940–42 arbeitete er im Rothschild-Spital, das damals noch jüdische Patienten behandeln durfte. 1942 Deportation mit seiner Frau Tilly und seiner Familie.

Rückkehr nach Wien #

Nach der Befreiung aus dem Lager Türkheim im Jahr 1945 kehrte Frankl nach Wien zurück, wo er 1946 bereits die Leitung der Neurologischen Poliklinik übernahm, der er bis 1971 vorstand. Frankl starb am 2. September 1997 in Wien.

Frankls Bestseller #

„... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, Frankls Auseinandersetzung mit den Jahren in mehreren KZs, wurde weltweit neun Millionen Mal verkauft. „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“ bietet eine Auswahl aus dem Gesamtwerk.


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Helmut Graf ist Psychotherapeut (Logotherapie und Existenzanalyse), Arbeits- und Gesundheitspsychologe, Klinischer Psychologe und Geschäftsführer der logo consult Unternehmensberatung in Kärnten. Außerdem hat er diverse Bücher über Viktor Frankl verfasst.

Kleine Zeitung, Freitag, 1. September 2017