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Der Meister der Eröffnung#

Der Wiener Schachprofi Ernst Grünfeld war ein fantasievoller und theoretisch versierter Spieler, dem das moderne Schachspiel wesentliche kreative Anregungen verdankt.#


Von

Michael Cerha


Der Artikel erschien am Samstag, 14. Mai 2011 in der Wiener Zeitung und wurde dem Austria-Lexikon vom Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Die teilweise oder vollständige Verwendung, digital oder in Printform, ist kostenpflichtig und bedarf der Zustimmung des Autors.


Ernst Grünfeld
Ernst Grünfeld, geb. 1893 - 1962
© Chessbase News.
Die teilweise oder vollständige Verwendung des Fotos, digital oder in Printform, ist kostenpflichtig und bedarf der Zustimmung des Verlags Bibliothek der Provinz, Weitra.

Der Mann steht an der Herzseite der Frau. Wie das schwarze Königspaar auf dem Schachbrett steht, ist es richtig. Nach der Etikette. Das andere Königspaar steht verkehrt: Die weiße Dame wendet ihre Herzseite nicht dem Gatten zu, sondern dem Läufer. Der kleine Skandal ist schon der Renaissance aufgefallen. Der neapolitanische Schriftsteller Actius Sincerius (eig. Jacopo Sannazaro, 1458-1530) hat ihn mit dem Verweis auf ein geflügeltes lateinisches Sprichwort erklärt, das landläufig gegen Mittel- und Nordeuropäer gemünzt war: Hellhäutige Menschen sind Nichtsnutze, d.h.: alborum hominum nulla utilitas. Die Schuld schob Actius dabei übrigens allein auf den Leidenschaftsmangel des blassen Königs, und nicht etwa auf die Freizügigkeit der Dame, die sich nach seiner Ansicht ganz begründet langweilt. Wie die kleine Anekdote belegt, hat wenigstens beides eine lange Tradition, der menschenverachtende Rassismus und die harmlose Neigung, das Schachspiel, wenn schon nicht praktisch, dann doch wenigstens symbolisch zu verstehen.

Ich wollte mit etwas halbwegs Harmlosen beginnen. Es gibt in der modernen Eröffnungstheorie des Schachspiels die sogenannte "spanische Partie". Für Nicht-Schachspieler sei angemerkt, dass sie nicht deshalb so heißt, weil sie noch keiner verstanden hat. Sie ist, im Gegenteil, seit mindestens 150 Jahren die am meisten gespielte und am gründlichsten durchdachte Eröffnung von allen, und dass sie "die spanische" heißt, kann man sich leichter als Anspielung an die dortigen Habsburger merken: Die Figur, die sich unmittelbar vor dem Monarchen befindet, muss in jedem Fall als erste voranschreiten.

Außer der spanischen gibt es noch jede Menge weiterer Eröffnungen, die englische und die französische, die holländische und die skandinavische, die schottische und die tschechische, die sizilianische, die indische usw. Selbstverständlich gibt es auch einen österreichischen Beitrag. Nachdem die sogenannte "Wiener Partie" wegen ihres allzu abwartenden Charakters heute international kaum mehr vorkommt, ist dieser Beitrag allerdings nur mehr mit dem in der heimischen Öffentlichkeit fast unbekannten Namen von Ernst Grünfeld verbunden.

"Orang-Utan-Eröffnung"#

In der Schachwelt steht dieser Name allerdings recht hoch im Kurs. Vielen Experten gelten die Grünfeldschen Vorstellungen vom aussichtsreichen Anfang einer Schachpartie als der Beginn der modernen Eröffnungsbehandlung überhaupt, und Anatoli Karpow nannte eine seiner wichtigsten Publikationen "Siegen mit Grünfeld-Indisch" (1997).

Man könnte Ernst Grünfeld durchaus den Ludwig Wittgenstein des Schachspiels nennen, und zwar sowohl in Bezug auf seine Außenseiterrolle in der Theorie, als auch in Bezug auf die Verspätung, mit der seine Bedeutung erkannt wurde. Es waren eigentlich erst der genialischere Zugang Bobby Fischers und Zeitgeisterscheinungen wie die Postmoderne, die den steifen Schach-Rationalismus von Schulmeistern wie dem Deutschen Siegbert Tarrasch aufbrachen und die Aufmerksamkeit auf die Vorreiter einer neuen, ganz anderen Kreativität lenkten.

Die Eröffnungen im Schachspiel werden meist in Zugnotierungen und Diagrammen präsentiert, die auf Nicht-Schachspieler wenig erotisch wirken. Obwohl es im Spiel selbst oft um die einfachsten Dinge des Lebens geht, die ziemlich spannend sind. Es heißt zum Beispiel, der polnische Schach-Großmeister Savielly Tartakower habe sich 1924 während eines Turniers in New York durch Spaziergänge im Zoo entspannt. Dabei entwickelte er eine besondere Vertrautheit mit einem Orang-Utan-Weibchen. Unter dem Eindruck dieses Erlebnisses eröffnete er eine Partie zum damals allgemeinen Erstaunen mit einem Doppelschritt des damenseitigen Springerbauern, "als wollte einer mit dem Arm ausgreifen, um auf einen Baum zu klettern", wie Tartakower selbstironisch bemerkte. Die auf seinen Vorschlag "Orang-Utan-Eröffnung" genannte Linie war lange Zeit vor allem von psychologischem Interesse, ehe sie der Russe Alexeij Sokolski nach dem Zweiten Weltkrieg auch theoretisch fundierte.

Nicht nur alltägliche Erlebnisse, auch die Charaktere der Spieler und ihr kultureller Hintergrund spiegeln sich in der Art der Figurenführung auf den 64 Feldern. Die Wurstigkeit, mit der im zweiten Zug der Wiener Partie die Initiative aus der Hand gegeben wird, gekennzeichnet durch den bewussten Griff nach dem falschen "Lippizaner", als bräuchte man den Kitzel der drohenden Niederlage, um endlich Adrenalin auszuschütten – sie hat doch etwas Wienerisches, überbietbar vielleicht nur mehr durch die allerdings schon ziemlich vollständige Apathie der sogenannten "Budapester Partie" – vielleicht eine Frage der kollektiven Gemütslagen, der regionalen Motorik, ein bisschen wenig Standgas, was aber nie für alle gilt.

Ernst Grünfeld nämlich, um endlich über ihn zu sprechen, wich der Auseinandersetzung im Zentralen durch ein Manöver seines linken Läufers zwar scheinbar ebenfalls aus. Aber erstens geschah das Manöver nicht mit den weißen, sondern mit den schwarzen Steinen, somit gewissermaßen von Anfang an in Notwehr. Und zweitens platzt bei Ernst Grünfeld mitten in die verhaltene Bewegung des Königsspringers und des Springerbauern, der nur um ein Feld vorrückt, ein energischer, geradlinig kämpferischer Doppelschritt des Damenbauern. Der erwartete, sogenannte "indische" Seitenausflug des Königsläufers folgt erst danach, wodurch die Randfigur tatsächlich von zentraler Bedeutung wird.

Auch in diesem individuellen Fall drängen sich latente Lebenszusammenhänge auf. Ernst (eigentlich Ernest Franz) Grünfeld wurde am 21. November 1893 in Wien-Josefstadt geboren. Die katholischen Eltern – der Vater stammte aus Schlesien, die Mutter war Sudetin – lebten in drückender Geldnot. Beim Spielen auf der Straße zog sich das vierjährige Kind am linken Bein eine Knieverletzung zu. Die Entzündung griff, wohl auch infolge unzulänglicher Ernährung, auf den Knochen über, und das Bein musste amputiert werden. Wenn die sechs älteren Geschwister spielten, konnte Ernst Grünfeld fortan nur mehr zuschauen, und als seine Altersgenossen später ihre ersten Liebesabenteuer suchten, saß er schweigend daneben, wie der Schachpublizist und -spieler Hans Kmoch in einem sehr privaten Porträt seines Kollegen notierte.

Nach der geringstmöglichen Schulbildung folgte eine Kaufmannslehre, deren berufliche Perspektiven sich nicht nur wegen der mangelhaften Qualifikation in Nichts auflösten, sondern auch wegen der Wirtschaftslage, die sich im August 1914 mit den Schüssen von Sarajewo schlagartig verschlechtert hat.

Schach als Lebenszweck#

Nachdem Ernst Grünfeld 1910 in einem Wiener Schachcafé den ersten Teil des legendären Matches zwischen dem deutschen Weltmeister Emanuel Lasker und seinem österreichischen Herausforderer Carl Schlechter miterlebt hatte, reifte in ihm allerdings ohnehin schon länger ein anderer Plan: Er verfiel dem Schachspiel "mit der Leidenschaft einer Liebesaffäre" (Kmoch). Mit äußerster Entschlossenheit hatte er noch 1910 begonnen, Schach zu lernen, um sobald wie möglich als Berufsspieler davon zu leben.

Schach war ein Feld, für das er als wenig wortgewandter, aber geduldig grübelnder Beobachter Voraussetzungen mitbrachte wie nur wenige sonst. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg begannen seine ersten Auftritte bei lokalen Turnieren in Wien. Ab 1920, als er das gut besetzte Wiener Turnier für sich entscheiden konnte, folgte der rasante internationale Aufstieg.

Er hätte sogar finanziell fast Glück gehabt. Im damals weltweit angesehenen Wiener Schachklub war man bereits 1912 auf das 19-jährige Talent aufmerksam geworden. Der vormalige Präsident dieses Klubs, Baron Albert von Rothschild, wäre laut Hans Kmoch prädestiniert gewesen, Grünfeld als Mäzen "mit Geld zu überhäufen". Nur war Rothschild bedauerlicherweise bereits 1911 gestorben, allzu früh für seine Angehörigen, für den Wiener Schachklub und, ja, auch für Ernst Grünfeld.

Von Grünfelds Turnierpartien sind 458 erhalten. Nur eine einzige davon begann er als Anziehender mit dem Doppelschritt des Königsbauern, also spanisch. Die Frage, warum er die gebräuchlichste Eröffnung der modernen Schachgeschichte derart selten verwende, beantwortete Grünfeld mit der kühnsten Behauptung, die in dem an kühnen Eröffnungsbehauptungen bestimmt nicht armen 20. Jahrhundert aufgestellt wurde: "Ich beginne eine Schachpartie ungern mit einem Fehler."

Die Absage an die spanische Eröffnung zeigt eine republikanische Tendenz, die vielleicht so schleierhaft politisch ist wie das berühmte Diktum von Aaron Nimzowitsch: "Die Drohung ist gefährlicher als die Ausführung", das sich auf das Schachspiel genauso wie auf den Stalinismus beziehen ließ.

Unkonventionelle Siege#

Aber lassen wir die Politik noch beiseite. Schachtheoretische Anhaltspunkte dafür, über die Verwegenheit der Grünfeld’schen Verwerfung der spanischen Eröffnung nicht einfach hinwegzusehen, liefert der Umstand, dass ein ungedecktes, zweifeldriges Vorrücken des Bauern, der vor dem König steht, tatsächlich in keiner anderen Phase des Spiels von irgendeinem Experten jemals gutgeheißen würde. Auch, dass dieser Eröffnungszug Deckungspflichten nach sich zieht, die den Spieler der Rochade nicht näher bringen, ließe sich anführen. Trotzdem steht Grünfeld in dieser Angelegenheit bis heute alleine.

Der große Aljechin soll den König nicht, wie zum Zeichen der Niederlage üblich, auf das Brett gelegt, sondern fassungslos durch den ganzen Saal geschleudert haben. Alexander Alexandrowitsch Aljechin, ab 1925 französischer Staatsbürger, war der regierende Weltmeister. Kein Spieler eigentlich, sondern eine Urgewalt, wie Eingeweihte bis heute finden. Gegen ihn spielte Grünfeld 1922 in Wien, und das war auf internationaler Turnierebene der Durchbruch der Grünfeld-indischen Verteidigung. Der einbeinige Josefstädter musste bis zum 56. Zug zittern, um den Vorteil, den er durch seinen neuartigen dritten Zug errungen hatte, über die Zeit zu bringen. Aber er schaffte es. Es war wahrscheinlich Ernst Grünfelds größter persönlicher Triumph, obwohl er Aljechin in der Folge noch mehrmals besiegte. Obwohl er die nach ihm benannte Verteidigung auch später nur sehr selektiv gebrauchte, unsicher darüber, ob sie tatsächlich korrekt war. Und obwohl zahllose andere Erfolge sich unmittelbar anschlossen: Grünfeld gewann die Turniere von Margate 1923, Frankfurt 1923, Meran 1924, Budapest 1926, Wien 1927, 1928 und 1933 sowie Ostrau 1933, alles jeweils gegen die Weltelite.

Nach späteren Berechnungen wäre er, hätte es damals bereits eine Weltrangliste gegeben, zumindest unter den besten zehn Schachspielern der Welt gewesen, wenn nicht unter den besten fünf. Erwähnenswert sind auch die großartigen, später niemals wieder erreichten Platzierungen der österreichischen Mannschaft bei den Schacholympiaden zwischen 1927 und 1935. In allen vier Olympiaden dieser Periode spielte Grünfeld für Österreich jeweils auf dem ersten Brett und erreichte etwa 1927 das Topscore 9,5 von 12 möglichen Punkten. Es waren die einzigen Schacholympiaden jemals, an denen Österreich mehrfach haarscharf an der Bronzemedaille vorbeischrammte, trotz des bitteren Wegfalls von Carl Schlechter, der das Zeug zum Weltmeister hatte, aber keiner wurde, dafür aber ein wahrer Gentleman war.

Grünfeld war eher das Gegenteil davon. Während Schlechter, wenn der Gegner einen Fehler machte, ebenfalls einen beging, um nicht durch einen Missgriff des Gegners bevorteilt zu werden, lachte Grünfeld laut Augenzeugen triumphalisch, wenn er den Gewinnzug ausführte. Er sprach nur ziemlich derben Wiener Dialekt und sonst ein paar Brocken Esperanto. Mit dem Kubaner José Raúl Capablanca, ebenfalls eine Schachgröße dieser Jahre, soll er sich aber glänzend verstanden haben. Beide verwendeten in ihrer Konversation statt Wörtern allerdings ausschließlich Schach-Notationen.

Das Illiterarische kam Grünfeld nicht eben zustatten. Als er 1930 Hans Kmoch, den bereits zitierten Publizisten und Wiener Meister seit 1921, wegen reihenweiser, unausgewiesener Verwendung seiner Analysen und Züge im Nachtragsband zum "Handbuch des Schachspiels" vor dem Weltschachverband belangte, wies dieser daraufhin zwar seine Mitglieder zur gewissenhaften Zitierung von Kommentaren anderer Autoren an, verweigerte aber die von Grünfeld begehrte Anerkennung eines Urheberrechts für bloße Schachzüge.

Schwere Altersjahre#

Auch Grünfelds Partie-Kommentare, von denen er ab 1933 zu leben versuchte, waren derart schachlich abstrakt, dass sie nur von einer bulgarischen Zeitschrift veröffentlicht wurden. Dieses Periodikum hatte jedoch leider kein Geld und entlohnte seinen Autor in Naturalien, und zwar in Bratwürsten und Kartoffeln, die er als sein Einkommen unentwegt derart verschlang, dass er am 3. April 1962, inzwischen vom 8. in den 16. Bezirk aufgestiegen, einfach an Überfettung verstarb. Auch darin war er das Gegenteil von Carl Schlechter, der 1918 in Budapest verhungert war, weil er zu fein dafür war, irgendwen um Unterstützung zu bitten.

Aber wovon reden wir? Ich wollte noch kurz auf das weniger Harmlose zu sprechen kommen. Dass Ernst Grünfeld zwar fast noch einmal Glück gehabt hätte. 1928 erreichte ihn eine Einladung zu einem hochdotierten Turnier nach Tel Aviv. Er hat sie begeistert angenommen. Leider wurde sie in letzter Minute zurückgezogen. Grünfeld hieß Grünfeld, war aber eben katholischen Ursprungs.

Was man in Tel Aviv zu seinem Pech in letzter Minute erkannte, wollten fünf Jahre später die Nationalsozialisten nicht wahrhaben. Für sie war jemand, der Grünfeld hieß, auch dann ein Jude, wenn er keiner war. Ab 1933 wurde Ernst Grünfeld zu keinem bedeutenden Turnier in ganz Europa mehr eingeladen. Es war das Ende seiner internationalen Karriere. Nicht nur bis 1945, sondern für immer.

An Treppenwitzen reich, verzeichnet die Geschichte noch, dass an der – später annullierten – Schacholympiade 1936 in Berlin zwar wohl ein Ernst Grünfeld teilgenommen hat. Es handelte sich allerdings um einen zufällig namensgleichen Vertreter der (siegreichen) ungarischen Mannschaft, 1907 in Sopron geboren. Da dieser Schachspieler tatsächlich jüdisch war, wurde er vom ungarischen Verband vorsichtshalber – wie auch der Rest der Mannschaft – unter einem ungarifizierten Namen gemeldet: "Ernö Gereben". Seine Partien erkennt man an der konventionelleren Verteidigung.

Michael Cerha

Michael Cerha, geboren 1953, Publizist, Dramaturg und Kulturvermittler, lebt in Wien, Wernberg und Frauenfeld. Er veröffentlichte zuletzt den Textband "documents" im Verlag "Bibliothek der Provinz", Weitra.

Wiener Zeitung, Samstag, 14. Mai 2011