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Rundgang durch das Pfarrgebiet St. Gertrud in Wien-Währing#

von Dietrich Olbrich, Sonntag, 15. September 2019

die Freude immer erhoffen, aber diese Hoffnung nie bestechlich werden zu lassen (I. Aichinger)

Zeitgeschichtlicher Rundgang durch das Pfarrgebiet St. Gertrud in Wien-Währing #

Nach vier Spurensuche-Touren in den letzten Jahren durch Weinhaus und einer Exkursion in Gersthof haben wir nun erneut ein benachbartes „Grätzel“ aufgesucht. Es kamen wieder fast dreißig Teilnehmer, treue Begleiter aus unserer Pfarre und neue Interessenten, diesmal auch Frau Petra Dorman aus London, die vor zwei Jahren für ihre Schwiegereltern Erna und Georg Duschinsky einen „Stein der Erinnerung“ in der Cottagegasse hatte setzen lassen. Wir betrachteten das gemeinsame Unternehmen an diesem Tag auch als eine Art Erntedank, bei dem uns bewegende Biographien, dramatische Ereignisse und gute Gedanken in großer Fülle entgegenkamen.

Wir begannen im ehemaligen Währinger Ortsfriedhof an den Original-Grabplätzen von Ludwig van Beethoven und Franz Schubert, die kurz nacheinander (1827 / 1828) in eine durch ihre Werke sehr präsente Ewigkeit abberufen wurden. Als Christian Andersen sechs Jahre später die Gräber besuchte, konnte er noch Ungarns ferne Berge dahinter sehen.

Das Gymnasium in der nahen Schopenhauer Straße rühmte Oskar Kokoschka in seinem Buch „Mein Leben“ als faszinierendes Beispiel für einen „Kulturcommenwealth“ im alten Österreich, mit einer „Völkerversammlung“ in jeder Klasse. Eigentlich habe ich in meiner bescheidenen Realschule in Währing in Wien meine Welt ebensogut kennengelernt wie eine Schuljunge in England zur selben Zeit fremde Kontinente, wo seine Eltern Kolonien ver-walteten. Sein Englischlehrer war Dr. Leon Kellner aus Czernowitz. Ihm verdanke ich meine Vorliebe für England. Kellner war auch enger Mitarbeiter von T. Herzl und der künftige Schwiegervater von Walter Benjamin.

Diese Schule besuchte 1941 Michael Kogon, der Sohn des im KZ Buchenwald inhaftierten Publizisten und berühmten Autors von „Der SS-Staat“ (1946), Eugen Kogon. Weil Michael und zwei Mitschüler als Brillenträger einem Wehrmachtsoffizier als „genetisch minderwertig“ aufgefallen waren, mussten sie mit ihren Taschentüchern einen Pflasterstein reinigen und wurden anschließend zum „Heil-Hitler!“-Ruf gezwungen. Damit kamen sie noch glimpf-lich davon. 88 jüdischen Schülern wurden im gleichen Jahr der weitere Schulbesuch untersagt, als die SS die benachbarte Synagoge verwüstete und anzündete. 1903 hatten dort Arthur Schnitzler und seine Frau Olga geheiratet. Der letzte Rabbiner war der Schwiegervater von Teddy Kollek, dem künftigen Bürgermeister von Jerusalem. Über 4.000 Juden hatten in diesem (kleinen) 18. Bezirk gelebt

In der Weimarer Straße 5 lebte dreißig Jahre lang Regina Freud, bis sie 1938 in eine Sam-melwohnung in der Gymnasiumstraße 32 verbracht wurde, wo vier Schwestern von Sigmund Freud Deportation und Ermordung erwartete. An weitere Opfer der Shoa, darunter ganze Familien, erinnern in der Gentzgasse 57, 40-42 und in der Edelhofgasse 1 seit 2013, also siebzig Jahre danach, „Steine der Erinnerung“. Eine Hoffnung ging davon, dass wir jeweils Fotos von längst erwachsenen Enkelkindern (aus England, Israel, Australien) vom Tag der Eröffnung der Gedenksteine zeigen konnten

Im früheren Pfarrhaus von St. Gertrud unterhielt in den zwanziger Jahren die 2012 selig gesprochene Hildegard Burjan für die Schwesterngemeinschaft von Caritas Sozialis ein Novizinnenheim. Sie selbst überging in den Lebensläufen ihre jüdische Herkunft. Das hinderte aber ihren innerparteilichen Konkurrenten Dr. Karl Vaugoin 1920 nicht daran zu erklären, daß er sich nicht noch einmal von einer preußischen Saujüdin in seinem Wahlkreis verdrängen lasse.

Solche Töne schlug auch der Pfarrer von St. Gertrud, Albert Schubert, 1933 an, als er sich damit brüstete, dass ich schon ein überzeugter Antisemit war, wo es noch keinen Nazi auf der Welt gab, während er doch gleichzeitig die Kirchenfeindlichkeit des Nationalsozialismus als gerichtsnotorisch erwiesen sah. Eindeutiger waren da die Klosterschwestern von St. Ursula in der Gentzgasse 14-20, die auch nach 1938 heimlich solchen Kindern Unterricht erteilten, deren Eltern im KZ, als Ausländer unerwünscht oder jüdischer Abstammung waren. An ihrem Gymnasium war der spätere Konzilstheologe Johannes Österreicher Religionslehrer, bis er 1938 nach Frankreich flüchten musste.

Im gleichen Jahr wurde der künftige MedizinNobelpreisträger Eric Kandel, dessen Eltern am Kutschkermarkt ein Spielzeugschäft hatten, in eine Schule verwiesen, in der nur jüdische Lehrer unterrichteten. In demselben Häuserblock schrieb von 1945 an die Überlebende Ilse Aichinger „Die größere Hoffnung“ über die vorausgegangenen Jahre. Ihre Zwillingsschwester war eines der Kinder mit langen Mänteln und ganz kleinen Rucksäcken, die fliehen mußten. Zur Niederschrift des Romans hatte sie besonders Viktor Frankl ermuntert. Ihm sollten wir gleich am früheren Rothschildspital begegnen.

Dort beschlossen wir unseren Rundgang. Der jungen Ruth Klüger gewährte der Garten des jüdischen Krankenhauses, wo meine Mutter arbeitete, in der NS-Zeit einen gewissen Schutz: Monatelang sah ich keine Kinder. Ich las, was mir in die Hände fiel. Als sie sich einmal mit einer Patientin über ihre Lektüre unterhalten konnte, war ich hingerissen von dem kleinen Vortrag, weil ich noch nie jemanden über Literatur hatte sprechen hören. Damit war ihr Weg zur bedeutenden Autorin („weiter leben“, 1992) bereits vorgezeichnet.

Viktor Frankl versuchte hier von 1940 bis 1942 gefährdete jüdische Patienten vor Suizid und Euthanasie zu bewahren. Den Schriftsteller Egon Friedell hatte in der gegenüberliegenden Gentzgasse 7 schon im März 1938 der Lebensmut verlassen. Aus Frankls Erfahrungen nach fünf Jahren KZ („…trotzdem Ja zum Leben sagen“) hörten wir allerdings den entscheidenden Satz, daß menschliches Leben immer und unter allen Umständen Sinn habe. Der Psychologe hatte es auch 1991 in einem Kondolenzbrief an die Schwester von Pfarrer Peter Zitta noch einmal bekräftigt, wessen der Mensch fähig ist. Ihr Mann war trotz Beinamputationen weiterhin in der Rax geklettert, wo er Frankl kennenlernte: Menschen wie er sind es ja, die meinen Glauben an diese Fähigkeit, mit jedem, auch dem ärgsten Schicksal fertig zu werden, aufrecht erhalten.

Wir standen noch einige Zeit beisammen, keiner wollte so rasch weggehen. In der Gruppe Spurensuche wurden Gedanken ausgetauscht, wie wir uns an weiteren „Steinen der Erinnerung“ beteiligen und ob wir die Ausstellung, die in der Langen Nacht so große Resonanz gefunden hatte, einmal z. B. der evangelischen Pfarre im 18. Bezirk anbieten könnten.

Frühere Rundgänge durch Wien bzw. andere Beiträge von Dietfried Olbrich#