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Marko M. Feingold: “Ich war wohl der erste Österreicher, der nach Auschwitz kam”#

Marko M. Feingold
Marko M. Feingold - Foto: Thomas Trenkler

Posted by Thomas Trenkler Sonntag, 10. Mai 2015

Am 8. Mai 2015 gedachte das offizielle Österreich des Endes des Zweiten Weltkrieges. Höhepunkt eines Festaktes im Kanzleramt war die Rede von Marko M. Feingold. Feingold, der sich selbst Max nennt, wurde am 28. Mai 1913 in Neusohl (heute Banská Bystrica/Slowakei Banská Bystrica ) geboren. Er wuchs in Wien auf, wo er bei einem Pelzhändler in die Lehre ging. Mit seinem Bruder Ernst wurde er 1940 ins KZ Auschwitz deportiert, ab 1942 war er im KZ Buchenwald. Nach Kriegsende blieb Feingold in Salzburg hängen. Er schleuste abertausende Juden, die in Palästina Heimat finden wollten, nach Italien. 1948 gründete er mit einem Partner das Geschäft „Wiener Mode“, das er bis 1977 leitete. Seit eben jenem Jahr ist er Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Salzburg. Und unermüdlich hält er Vorträge, oft vor Schülern. Er weiß, dass bei seinen Zuhörern etwas hängenbleibt. Davon, sagt er, „kann man leben“.

Im Frühjahr 2012 brachte der Otto Müller Verlag in Salzburg dessen Überlebensgeschichte „Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh“, die im Jahr 2000 im Picus Verlag erschienen war, als Wiederveröffentlichung heraus. Aus diesem Anlass bat ich Feingold um ein Interview. Es fand am 27. August 2012 um 9 Uhr in der Salzburger Synagoge statt. Es brauchte nicht einmal eine Frage: Schon begann der gewitzte alte Herr, dem ich keine 80 gegeben hätte, zu erzählen – über die fetten Jahre als Vertreter in Italien und die mageren während der NS-Zeit.

Sie sagten am Telefon, ich dürfe Sie gerne „ausfratscheln“. Kürzlich wurde Ihre Überlebensgeschichte neu aufgelegt …

Ihnen all das zu erzählen, was im Buch steht, das wird nicht gehen. Aber zumindest die wichtigsten Dinge. 1927 hab ich eine Lehre bei einer Pelzhandelsfirma angetreten. Weil ich ein guter Lehrling war, erfolgte die Freisprechung schon nach zwei Jahren. Mit dem 18. Lebensjahr bin ich von z’haus weg. Und jeden Abend ins Grabencafé gegangen. Vorne war ein Tagescafé, hinten ein Tanzsaal. Wir Burschen saßen gleich beim Eingang und haben die Frauen beobachtet. Und wenn eine fesch war, hat man sich schon vorher ausgemacht, wer sie holt. Das waren so kleine Schmähs. Mit 18 Jahren sah ich wie 28 aus. Meine Lieblingsfrauen waren 35, 40 Jahre, im beginnenden Wechsel. Und ab zehn Uhr abends ist der Strich gekommen. Abenteuer mit den Huren, von denen man so viel gelernt hat. Man hat alles umsonst gekriegt. Denn die haben ja auch ein Herz. Und die wollen ja auch einmal einen Mann zum Vergnügen haben. Man hat mit ihnen getanzt. Es war so eine schöne Zeit.

Aber dann kam die Wirtschaftskrise.

Ich glaub, ich war damals der jüngste Handelsangestellte in Wien. Aber es hat nichts genützt. ’32 werde ich arbeitslos. Die Dollfuß-Regierung: furchtbar! Wenn man arbeitslos ist, versucht man es als Vertreter. Denn Fixanstellungen gibt es nicht, man kann nur auf Provision arbeiten. Ich fahre mit meinem Bruder Ernst – ich erinnere mich, wie wenn es gestern gewesen wäre – ins Mölltal. Er geht auf der einen Seite, ich auf der anderen. Wir hatten damals flüssige Seife zu verkaufen. Der eine hat sie gebraucht, der andere nicht, aber verkauft hat man sie einem jeden. Wenn man verkaufen kann! Denn ein Vertreter verkauft nicht das, was die Leute brauchen. Und einmal, ich hab die Türklinke noch nicht einmal von innen ergriffen, schreit mir einer entgegen: „Bei Juden kaufen wir nicht.“ Juden hatten damals zumeist keine Beschäftigung und waren daher – Mundwerk ist da – Vertreter. Der hat sich gedacht: Das ist a Vertreter, das ist a Jud. Also: „Bei Juden kaufen wir nicht!“ Mein Bruder fragt mich dann: „Du schaust so weiß aus. Ist Dir nicht gut?“ Und ich: „Da ist nicht zu bleiben.“ Also haben wir beschlossen, nach Italien zu gehen. So wie es in der Bibel steht: „Sieben fette Jahre, sieben magere Jahre“. Wir hatten sechs fette Jahre, von ’32 bis ’38. Wir zwei haben so viel Geld verdient, wir konnten uns so viele Sachen leisten, es ging uns so wunderbar. Aber mit 20 oder 22 Jahren: Wer denkt an Pension oder Geldanlage? Sie haben sich gern schick angezogen. Die Italiener machten auch damals schon hervorragende Mode. So wie man bei Damen kein 44er-Kleid in die Auslage gibt, sondern ein 38er, so gibt man bei den Herrn einen 46er-Anzug in die Auslage. Der hat halt genau gepasst. Was soll ich Ihnen sagen? Man kauft noch und noch, die Koffer werden mehr. Wenn wir von einer Stadt in eine andere gewechselt sind: Wir mussten am Bahnhof zwei Taxis nehmen. Denn in eines sind die ganzen Koffer net einigangen. Dann kam das Jahr 1938. Ihre Pässe liefen im Mai aus – und so kamen Sie im Februar zurück nach Wien, um sie verlängern zu lassen. Aber Sie ließen sich Zeit, was sich als schwerer Fehler herausstellte. Denn Mitte März marschierte Hitler ein. Und wir sind in die Hände der Gestapo gefallen, die unseren Vater suchte. Nach fünf Wochen wurden wir entlassen. Es hieß: „Ihr müsst sofort Österreich verlassen!“ Nach Italien konnten wir nicht. Mussolini hatte ja die Grenze gesperrt. Zwölf Stunden später saßen wir im Zug nach Prag. Dort laufen die Pässe tatsächlich aus. Genau an dem Tag kontrolliert uns die tschechische Polizei. Sie nehmen uns mit, wir kriegen drei Wochen Polizeistrafe. Während der Haft gehen zwei Beamte mit uns auf die deutsche Botschaft, denn es gab ja kein Österreich mehr, zur Verlängerung der Pässe. Wir warten, stehen herum. Meinem Bruder und mir war das wurscht, wir waren ja in Haft. Aber den Beamten wird das zu langweilig: „Was ist jetzt mit den zwei?“ – „Das sind keine deutschen Staatsbürger mehr!“

Weil Sie Juden waren.

Ja. Die Pässe haben wir nicht mehr zurückbekommen. Keine gültigen Papiere – also Abschiebung nach Polen. In der Schubhaft saß eine ganze Menge Polen, darunter Taschendiebe und Einbrecher. Man freundet sich mit denen an, sie glauben, wir sind Kollegen, und erzählen uns ihre Geschichten. Zum Beispiel: „Wir haben am Bahnhof leichte Arbeit. Wir stehen umanander, dann fährt der Zug ein. Übers Mikrofon wird durchgegeben: ,Achtung vor Taschendieben!’ Da greift natürlich jeder dorthin, wo er die Brieftasche hat.“ Und die Ganoven sehen, wo sie zugreifen müssen! Ich hab viele Kunststückln gelernt, die mir im späteren Leben genützt haben. Da erfährt man auch, wie man zu neuen Papieren kommt. „Musst nur nach Warschau kommen, in jedem Café sitzt ein Fälscher, der macht die Papiere so, wie du sie brauchst.“

Sie kamen also nach Polen …

Ich hatte eine Tante in Lemberg, die uns für ein paar Tage aufgenommen hat. Die hatte eine Fleischerei. Dann schickte sie uns zu ihrem Bruder, der war Gymnasialprofessor in einer kleinen Stadt und Direktor der Handelsschule. Eine Persönlichkeit! Sonntagvormittag war bei ihm ein Riesenwirbel. Warum? Wegen mir? Ja. Lauter Heiratsvermittler! Man hat mich gesehen: ein fescher Bursch. Ich hätte mich dort in ein warmes Bett legen können. Aber ich hatte keine Papiere, keine Aufenthaltsgenehmigung! Und auf alles, was Deutsch gesprochen hat, war ein Spion angesetzt. Also weiter nach Warschau, dort lebte ein Bruder meines Vaters, der hatte ein Lebensmittelg’schäft. Wir wohnten kurze Zeit bei ihm und ließen uns Papiere machen. Wunderbare polnische Papiere! Wir konnten uns anmelden. Aber es dauert nur zwei Monate, und das Militär steht vor der Tür. Wir haben noch nicht unseren Präsenzdienst geleistet. Daran hatten wir natürlich nicht gedacht! O weh, o weh! Hinterher hab ich immer gesagt: Das war ein Kampf auf Leben und Tod, obwohl wir kein G’wehr und kein Messer in der Hand g’habt haben. Es gelang uns, zurückgestellt zu werden. Das war im Herbst ’38. Am nächsten Morgen sind wir zurück nach Prag – mit den falschen Papieren. Und dann marschierten die Deutschen ein. Sie haben, wie Sie sagen, „wirklich nichts ausgelassen“. Wollen Sie wissen, wovon ich gelebt habe? Ich verkaufte meine Anzüge. Am Wenzelsplatz hat es ein Büffet gegeben. Für eine Krone hat man a bisserle Kraut und a bisserle Kartoffel gekriegt und für eine zweite a Würschtl dazu. Die zweite Krone fürs Würschtl hatte ich nicht. Das ist Not. Eines Tages kommt mir ein hoher SS-Offizier in der schwarzen Uniform entgegen. He, den kenn’ ich doch! Und er erkennt mich auch. Er bleibt natürlich nicht am Wenzelsplatz stehen, wir treffen uns in einem Hauseingang. „Wie kommst denn du her?“ War das ein Arbeitskollege von mir bis 1932! Er muss eine steile Karriere in der Verbotszeit gemacht haben. In Prag hat er eine Wirtschaftsabteilung übernommen. Und am nächsten Tag sind wir zwei, mein Bruder und ich, Beamte. Was haben wir zu tun? Nun: Als die Deutschen einmarschierten, sind Tausende Familien – Juden, Tschechen, Zigeuner, Kommunisten – nach Russland geflohen. Man hat nur das Notwendigste mitgenommen. Und wir müssen mit einem tschechischen Polizisten in die Wohnungen gehen und alles aufschreiben, was dort ist.

Sie legten Inventare an.

Ja. Wenn Leute über Nacht abhauen: Die können Kleider mitnehmen, vielleicht das Silberbesteck und, was bei Juden üblich ist, zwei silberne Leuchter. Aber Bettzeug, Bilder und G’schirr: Das können sie doch nicht mitnehmen! Trotzdem: Diese Sachen fehlten alle. Die „guten“ Nachbarn und die Hausmeister haben die jüdischen Wohnungen bestohlen! Wir setzen für die Möbel natürlich Phantasiepreise ein. In der Annahme, dass sich Hitler nicht mehr halten wird: „Jetzt ist es aus mit dem Dritten Reich.“

Und Sie waren ja auch keine Schätzmeister.

Das geht eine lange Zeit wunderbar. Das heißt: Keine Prüfung. Aber irgendwann stürmen sechs SS-Lackeln ins Büro und schlagen uns nieder. Was will man von uns wissen? Welche tschechische Organisation uns zu dieser Sabotage animiert hat. Wir hatten mit Tschechen gar keine Verbindung, wir konnten gar keine Namen sagen, selbst wenn wir wollen hätten. Es hat uns ja wirklich niemand den Auftrag gegeben. Man glaubt uns nicht. Immer wieder werden wir geschlagen, noch und noch. Man schaut furchtbar zertrümmert aus. Am 1. September ’39 fängt der Polenfeldzug an. Bisher war man der Meinung, dass wir Deutsche sind. Weil wir ja von meinem Kollegen eingesetzt wurden. Aber dann kriegt ein neuer Beamter unseren Ordner. Er findet unsere polnischen Papiere. Er denkt sich: „Ah, da tun wir uns nicht lang umanander, die schieben wir in das von Deutschland besetze Polen ab! Die sollen dort vom deutschen Gericht abgeurteilt werden.“ Also kommen wir nach Krakau. Wir werden verhört, aber es kommt natürlich nix G’scheits aussi. Und eines Tages werden alle 450 Häftlinge, das ganze Zuchthaus, abtransportiert. Wir haben keine Ahnung, wohin. Aber im Viehwaggon ist so a klans Fensterl. Die Polen schauen aussi, und einmal hör ich: „Oświęcim“. Das ist das polnische Wort für Auschwitz. Schon in der Tschechoslowakei hatten wir davon gehört, dass man da ein KZ baut, wo viele Leut’ hinkommen und keiner wegkommt. Die Polen wissen auch, was da los ist. Wir sind in Schrecken versetzt: Wir kommen nach Auschwitz. Einen Kilometer davor ist die Bahnstation. Wir mussten durch einen Kordon SS-Leute. Es wurde geschossen, geschlagen, getreten. Man sieht die g’streiftn G’wandln: Tragen die alle Pyjamas? Was soll ich sagen: Furchtbar! Hinein ins Lager. Ich hatte die Nummer 11.900. Ich war wohl der erste Österreicher, der nach Auschwitz kam. Erst langsam lernt man das System kennen. Man braucht ja Funktionäre im KZ. Also holt man aus Zuchthäusern Häftlinge, die zu 10, 20, 30 Jahren abgeurteilt wurden. Und die sind jetzt die Chefs. Muss ich Ihnen sagen, wie das ist, wenn man ihnen begegnet? Das sind brutale Zusammenschläger, brutale Mörder! Wie gesagt: Ich hatte die Nummer 11.900. Damals existierte Auschwitz sechs Monate. Aber mehr als 3000 oder 4000 Häftlinge hat man nicht gesehen. Und es hat noch keine Gaskammern gegeben. Es hat immer geheißen: Ein Häftling wird nicht erschossen; es wäre schade um die Kugel. Wo sind die also hingekommen? Erschlagen! Wenn wir von unserem Block frühmorgens ausg’grückt sind, sind immer 15 oder 20 Häftlinge belämmert liegen geblieben. Am Abend waren sie weg. Eins hab ich noch vergessen: Nach dem Einrücken musste man alles abgeben. Kriminelle Häftlinge nehmen die Sachen entgegen. Papiergeld grabst er sich gleich. „Was machst Du mit meinem Geld?“ – „Du wirst es nicht brauchen. Du hast in Auschwitz eine Lebenserwartung von drei Monaten. Dann gehst du durch den Kamin.“ Man denkt sich: „So ein Blödsinn, was der sagt.“ Dann geht man weiter, man muss sich ausziehen, dann steht man vor der Dusche und wird kahlgeschoren. Man entmannt jemanden damit. Ich schau meinen Bruder an: „Weißt du, wie wir ausschauen? Wie ein Arsch mit Ohren!“ Die Tränen rinnen uns über die Wangen. Man fängt an zu denken: Das kann stimmen mit den drei Monaten. Waren Sie schon einmal in Auschwitz?

Nein.

Wir kamen in den Block 13. Im Keller waren Bunker, im oberen Stock war die Gestapo, und darüber die Häftlingsräume. Alle übrigen Gebäude waren Holzbaracken. Das war der erste gemauerte Block, noch nicht fertig. Keine Fenster, keine Türen, keine Installation, gar nichts. Im Hof hat es eine Pritsche gegeben mit einer einzigen Wasserleitung. Wenn sich 400 Häftlinge haben waschen wollen: Kaum, dass man mit dem Handtuch einmal reinfahren konnte, um es nass zu machen. Zuerst haben wir zwei, drei Tage im Hof exerzieren müssen. Dann haben wir unsere Zeichen annähen müssen. Den roten Winkel für politische Häftlinge, den gelben für Juden und das Zeichen für die Strafkompanie. Schon am ersten Morgen, an dem wir ausrücken mussten, hat mich ein polnischer politischer Häftling, nicht einmal ein Krimineller, ausersehen: Dich mach ich fertig! Mit einem anderen musste ich einen Kasten tragen, in den Kies eingeworfen wurde. Wir mussten einen Eisenbahndamm aufschütten, damit die Züge ins Lager hineinfahren konnten. Schon bald waren die Händ’ ganz offen. Der Pole steht auf so einem Kieshaufen, sechs, acht Meter hoch. Ich muss zu ihm hinaufgehen, er gibt mir einen Kinnhaken, ich flieg nach hinten abi. Kaum, dass ich unten bin, muss ich wieder hinauf. Dreimal hab ich die Tour gemacht. Dann war ich voll Blut. Ich muss furchtbar ausg’schaut haben. Denn ein grüner, also krimineller Kapo kommt zu mir: „Wie schaust denn Du aus? Von was hast denn des?“ – „Ich bin hingefallen.“ Er fragt aber wieder. Dann war mir schon alles wurscht. Ich sagte ihm: „Der will mich fertig machen.“ Der wusste schon, dass da zwei Brüder Feingold angekommen sind. Denn wir hatten nach der Einlieferung den Fluchtpunkt bekommen, also dass auf uns besonders Acht gegeben werden muss. Er sagte: „Du hast ja auch einen Bruder.“ – „Ja, der geht da drüben.“ Er hat ihn hergerufen. „Kommt’s mit mir!“ Dort, wo man den Kies in die Kästen eingefüllt hat, hat er gesagt: „Nur so viel, dass der Boden bedeckt ist. Mehr kann ich euch nicht helfen. Jetzt ist es elf Uhr. Um zwölf ist Mittagspause. Danach nehmt ihr euch eine Schaufel. Dann könnt ihr am Damm schaufeln. Das ist leichter.“ Das war der erste Tag. In den darauffolgenden Tagen: Die Kost minimal. Essen wurde mit Absicht zurückbehalten. Man bekommt Durchfall. Man kriegt alle möglichen Zustände. Innerhalb von zweieinhalb Monaten bin ich auf unter 30 Kilo gekommen. Katastrophal.

Die Berichte in Ihrem Buch sind erschütternd.

Mitte Mai wird ein Transport nach Neuengamme zusammengestellt. Wir wussten nichts über das KZ. Mein Bruder wurde ausgesucht, ich nicht. Ich war schon ein Muselmann, wie man das in Auschwitz nannte. Ich geh natürlich zu den Kapos und sekkier sie, sie sollen mich auch nehmen. Der eine gibt mir einen Tritt, der andere einen Schlag. Bis ich einen erwisch, der mich akzeptiert und meine Nummer aufschreibt. So bin ich mit meinem Bruder nach Neuengamme gekommen. Ein KZ in der Nähe der Ostseeküste. Kalte, feuchte Luft, lehmiger Boden. Wir sollen einen Seitenarm der Elbe regulieren. Schlimmer kann es einem Menschen nicht ergehen. Nun ist es aber so, dass Neuengamme erst im Aufbau ist. Das Krematorium ist noch nicht fertig. Zehn, zwölf Leichen schickt man jeden Tag nach Hamburg. Mehr traut man sich nicht. Beim Appell sucht man immer wieder Leute raus. Ich wollte bleiben, aber ein paar Tage später hab ich gemerkt: Es hat keinen Sinn, mein Bruder hat nichts davon, wenn ich hier sterbe, es ist besser, ich geh weg. Ich steck den Kopf raus – und schon hat man mich gehabt. Am nächsten Tag sind 250 Häftlinge nach Dachau geschickt worden. Zur Verbrennung. Von Neuengamme nach Dachau: Da ist es mir am miesesten gegangen. Mir hingen hinten die Gedärme raus. Wenn ich mich setzen wollte, musste ich sie erst wieder hineinschieben. 75 kamen lebend in Dachau an. Die kamen auf einen Quarantäneblock, um zu sehen, wer eventuell noch arbeitsfähig wird. Der Kapo sieht, dass sich viele Häftlinge um mich herumscharen. Jeder will was wissen.

Sie konnten ja viele Sprachen.

Ja. Da denkt er sich: Den können wir brauchen. Und er macht aus mir einen Dolmetscher. Dann geht es mir drei Wochen sehr gut, ich hab reichlich zu essen. Normalerweise, das muss ich ehrlich zugeben, haben Funktionäre immer die Häftlinge bestohlen. Aber wir haben das nicht notwendig, denn der Kapo ist sehr gescheit. Jede Nacht sterben etliche Häftlinge. Aber er meldet sie erst einen Tag später. Daher bekommen wir auch für die Toten das Essen. Nach drei Wochen muss ich meine Zeichen annähen: Rot für politischer Häftling, dann bin ich mit Gelb beschäftigt. Da kommt der Kapo: „Du bist a Jud?“ – „Ja. Hast du des net g’wusst?“ – „Nein. Juden dürfen in Dachau keine Funktion ausüben.“ Ab dem nächsten Tag arbeite ich auf der Plantage, also in der Gärtnerei.

Sie mussten die Tätigkeiten gebückt verrichten:

Nicht die Arbeit, sondern die Quälerei stand im Vordergrund. Es war Sommer 1941.

Zwei Jahre in Haft.

Es wird immer schwieriger. Es fehlen mir Vitamine, ich bekomme Hautauschläge, dann brechen Beulen auf, ich krieg zwei Wunden am Oberschenkel und in der Kniekehle. Eiter und Blut rinnt heraus. Furchtbar. Juden werden in Krankenrevier nicht aufgenommen, sie können nur am Block behandelt werden. Die Sanitäter kommen mit einem Brett. Ich frag mich: Was wollen damit? Sie gehen auf die Toilette. Da stehen sechs Muscheln nebeneinander – ohne Zwischenwand. Denn der Häftling soll sich doch unterhalten können, wenn er auf dem Klo sitzt. Das Brett wird auf die Muscheln gelegt. Und dort wird man operiert. Das ist deutsche Hygiene! Der Sanitäter fiezelt in der Kniewunde umanander, sie wird immer größer. Nach kurzer Zeit lande ich bei den gehbehinderten Häftlingen. Ein gehbehinderter Häftling wird in ein anderes Lager gebracht, aber nicht in eines, in dem er gleich ankommt, sondern da soll er hingehen. Beim Gehen brechen die Häftlinge zusammen, und die darf die SS erschießen. So ist es auch bei uns. Wir werden von Dachau nach Buchenwald transportiert. Und müssen acht Kilometer bergauf gehen, weil Buchenwald oben auf einem Berg liegt. Mehr als die Hälfte hat es nicht geschafft. Mit Ach und Krach komm ich oben an. Es war bereits Nacht, wir konnten nicht versorgt werden, sind am Appellplatz liegen geblieben. Am nächsten Morgen hat man mich ins Krankenrevier geschleppt. Dort wurde ich operiert. Die Wunden heilen aber nicht. Eines Tages kommt ein Arzt, der eine Hautübertragungen machen will. Er sucht zwölf Häftlinge aus, darunter mich. Am nächsten Morgen kommt der Arzt. Er schaut sich meine Wunde an und sagt: „Der nicht!“ Über Nacht war die Wunde fast geheilt. Mindestens 20 solche Sachen hab ich erlebt, die unerklärlich sind. Alle anderen elf sind operiert worden – und an Blutvergiftung gestorben. Ein andermal wurde ein Transport nach Flossenbürg zusammengestellt. Das KZ war bei uns bekannt als Hinrichtungsstätte. Denn sie haben immer wieder Häftlinge zum Straßenbau angefordert. Aber so viele Straßen hat es dort nicht geben können. Auch meine Nummer wurde aufgeschrieben. Ich geh runter ins Revier. Ein SS-Mann sagt: „Hose runter!“ Ich lass die Hose herunter. Er sagt: „Kommt nicht in Frage.“ Ich geh wieder hinauf zum Block und frag mich: Was kann der gesehen haben? Im Block schau ich nach: Ich hatte zum ersten und einzigen Mal ganz dicke, geschwollene Füße.

Oder, eine andere Geschichte. Ich war zuerst im Steinbruch, dann in der Fuhrkolonne. Und dann gab es die Ausschreibung, man kann Maurerlehrling werden. Erst beim zweiten Turnus werde ich akzeptiert. Und ich werde ein sehr guter Maurer. Irgendwann, im Oktober 1942 höre ich, dass ein Transport nach Neuengamme weggeht. Ich hatte eine Schwester, Rosa, die unter falschem Namen gelebt hat. Bis ’44 bekam ich von ihr Nachrichten. Sie hat mir immer geschrieben: „Deinem Bruder geht es sehr gut.“ Ich renn also auf die Schreibstube: „Ich will nach Neuengamme!“ Er fragt: „Bei welchem Kommando bist du?“ – „Bei den Maurern.“ – „Von denen darf keiner weg!“ – „Schreib hin, ich bin Steineträger!“ So werde ich eingeteilt, komme auf einen Transportblock, freu mich schon, dass ich meinen Bruder wiedersehen werde. Um elf Uhr nachts eine Durchsage: „Reichsführer SS Himmler befiehlt: Alle Juden in Konzentrationslagern auf deutschem Boden müssen nach Auschwitz verbracht werden. Mit Ausnahme der Bauhandwerker.“ Ich renn zurück auf die Schreibstube. Sitzt ein anderer dort.

Er glaubte Ihnen nicht, dass Sie doch Maurer sind.

„Da steht, du bist Steineträger.“ Bis ich dem klar machen konnte, dass ich nur meinen Bruder sehen wollte! Und Sie hätten ihn gar nicht mehr gesehen. Ja. Mein Bruder ist bereits am 15. Jänner ’42 in Neuengamme verstorben. Meine Schwester hat mich nicht treffen wollen – und belogen. So lebte ich weiter im Glauben, dass es meinem Bruder gut geht. Aber so viel Platz haben Sie doch gar nicht! Ganz schnell: Am 11. April 1945 werden wir in Buchenwald befreit. Wir sind 28 Nationen. 27 werden von ihren Heimatländern mit Sanitätsautos und Bussen geholt. Nur die 500 Österreicher, darunter 30 oder 40 Juden aus Wien, nicht. Viele blieben in Deutschland. 128 wollten aber zurück. Es wurden drei Busse der Verkehrsbetriebe von Weimar konfisziert. In amerikanischer Begleitung ging es über München, Salzburg, Linz in Richtung Wien. An der Zonengrenze bei Enns hieß es: Wir dürfen nicht durch. Was geschieht mit uns? Man beschließt, uns nach Buchenwald zurückzubringen.

Das wollten Sie aber keinesfalls.

Bei jeder Station, in Wels, in Linz, in Attnang-Puchheim, steigen ein paar nicht mehr wieder ein. Und ich bin eben mit fünf anderen in Salzburg ausgestiegen. Es war halb neun Uhr am Abend. In der Nonntaler Schule war ein Lazarett eingerichtet. Dort haben wir übernachtet. Am nächsten Tag sind wir zur Polizei gegangen. Ein netter Beamter fragte: „Habt ihr schon was zum Schlafen?“ – „Nein.“ – „Geht’s in die Haydnstraße Nummer 2, da ist im ersten Stock ein Büro von der NSV, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Die könnt’s nehmen.“ Dort haben wir uns eingerichtet. Und so bin ich in Salzburg hängen geblieben.

Nach ein paar Tagen übernahmen Sie die Leitung der Küche für ehemals politisch Verfolgte.

An manchen Tagen hat Salzburg 30.000, 40.000 Flüchtlinge beherbergt. Alle Kasernen waren voll. Ungefähr 100.000 jüdische Flüchtlinge hab ich nach Italien gebracht. Die meisten Grenzübergänge waren in der französischen Zone. Und die Franzosen haben weggeschaut. Erst ’47 haben sie die Flüchtlinge nicht mehr durchgelassen. Da waren aber noch 5000 Juden in Saalfelden. Da hab ich entdeckt, dass auf zehn Kilometer Luftlinie die amerikanische Zone direkt an Italien anschließt: der Krimmler Tauern. In der Nacht hab ich sie nach Italien runtergebracht.

Warum sind Sie nicht auch nach Palästina?

Warum hätte ich das tun sollen? Mir ist es gut gegangen. Die ersten Jahre hab ich gehofft: Vielleicht taucht doch noch irgendeiner meiner Verwandten auf. Dann hab meine Frau kennengelernt, 1947 geheiratet, mit einem Partner ein Modengeschäft aufgemacht. Eins hat das andere ergeben.

Aber die Österreicher verhielten sich Ihnen gegenüber mies.

Das Land ist schön. Über Menschen kann man hinwegschauen. Viele Leute sind nach ’45 zu mir gekommen. Sie haben gebeten, ich soll ihnen verzeihen. Ich hab ihnen gesagt: Ich kann ihnen verzeihen – aber ich kann das nicht für andere tun.

Sie haben Ihren Peinigern verziehen?

Ja.

Haben Sie eine Erklärung, warum gerade Sie als einziger Ihrer Familie überlebten?

Nein.

Und wie wird man 99?

Ich weiß es nicht. Ich friss alles. Ich glaube wohl an einen Gott, denn irgendetwas muss es da geben – das sind die Zufälle in meinem Leben; aber religiös bin ich nicht. Ich werde immer wieder nach meinem Rezept gefragt. Und ich antworte: „Nächstes Jahr bring ich mein Wasserle heraus.“ Aber ich weiß immer noch nicht, was ich hineingeben soll.

--> Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Trenkler
--> Dieses Interview erschien 2013 im Sammelband “Das Zeitalter der Verluste. Gespräche über ein dunkles Kapitel” (Czernin Verlag).