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Politisch war es ein Fiasko #

Diese Woche jährt sich zum 50. Mal die Niederschlagung des Prager Frühlings. In Tschechien und der Slowakei spielt das kaum noch eine Rolle. #


Mit freundlicher Genehmigung aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (23. August 2018)

Von

Niklas Perzi


Sowjet-Panzerbesatzungen erschossenen Zivilisten
Aug. ’68. Die Bilder der von nervös gewordenen Sowjet-Panzerbesatzungen erschossenen Zivilisten und der blutgetränkten tschechoslowakischen Fahnen haben sich tief ins kollektive Gedächtnis Europas eingebrannt. Foto: Rolls Press/Popperfoto/Getty Images

Es war die größte militärische Operation in Nachkriegseuropa. Als in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 Truppen des Warschauer Pakts mit den Sowjets an der Spitze in der Stärke von mehr als 500.000 Mann in die Tschechoslowakei einmarschierten, schien die Frage eines Sonderweges der Tschechen und Slowaken vorerst entschieden. Die Operation war militärisch gut vorbereitet und verlief erfolgreich, zumal die tschechoslowakischen Truppen wie schon so oft in der Geschichte ihres Landes auf Geheiß der Politik keinen Widerstand leisteten und in den Kasernen blieben. Politisch jedoch entwickelte sich das ganze Manöver zu einem Fiasko.

Geeint im zivilen Widerstand #

Die von den Sowjets mit dem „gesunden“, Moskau absolut ergebenen Kern der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei geplante weitere Inszenierung lief ins Leere. Der greise Staatspräsident Ludvík Svoboda weigerte sich, die ihm vorgeschlagene „revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung“, die für Absetzung und Bestrafung der Staats- und Parteiführung sorgen sollte, zu ernennen. Den moskauhörigen Kollaborateuren war rasch der Mut vergangen. Nicht einmal an ihre Unterschrift unter dem „Einladungsbrief“ an die Sowjets, in dem sie um „brüderliche Hilfe angesichts der Bedrohung des Sozialismus“ ersucht hatten, wollten sie noch erinnert werden. In dem Augenblick, als die Tschechen und Slowaken erwachten und sich zum zweiten Mal nach 1938/39 mit einer militärischen Besetzung ihres Landes konfrontiert sahen, waren alle Konflikte der Monate davor vergessen, war fast das ganze Volk geeint im (zivilen) Widerstand gegen die Übermacht, und dies durchaus erfolgreich. Die Medien berichteten bis zur Übernahme der Redaktionen und Sender, Behörden und Institutionen funktionierten weiter. Ja, die Kommunistische Partei berief sogar ihren Parteitag spontan ein. Mitten in einem Maschinenbaukombinat des Prager Arbeiterviertels Vysočany, geschützt von den „Arbeitermilizen“, wählten die Delegierten in Abwesenheit der von den Sowjets inhaftierten engsten Führung ein neues, um die moskautreuen Genossen bereinigtes Präsidium. Die Konterrevolution, die die Sowjets eigentlich niederschlagen wollten, war plötzlich überall und nirgendwo zugleich. Die Bilder der von nervös gewordenen Sowjet-Panzerbesatzungen erschossenen Zivilisten und der blutgetränkten tschechoslowakischen Fahnen haben sich tief ins kollektive Gedächtnis Europas eingebrannt. Die Operation forderte 500 Todesopfer, darunter etwa 100 tschechoslowakische Bürger.

Scheibchenweise Rücknahme der Reform #

Entgegen der gängigen Erzählung bedeutete der Einmarsch noch nicht das politische Ende des Reformexperiments (und war auch Rudolf Kirchschläger in Ermangelung einer österreichischen Botschaft auch damals nicht Botschafter, sondern „nur“ Gesandter in Prag). Die Sowjets, mit ihrer Strategie vorerst gescheitert, machten aus der nach Moskau verschleppten Partei- und Regierungsführung mit Parteichef Alexander Dubček und Regierungschef Oldřich Černik an der Spitze Verhandlungs-„Partner“. Diese, unter starken menschlichen und politischen Druck gesetzt, stimmten schließlich der „vorläufigen“ Stationierung der fremden Truppen in ihrem Land zu. Nach Prag zurückgekehrt, begannen sie mit der scheibchenweisen Rücknahme ihrer eigenen Reformpolitik. Der Widerstand aus Partei und Bevölkerung wurde da zusehends lästig. Zunächst noch versuchten die Spitzenpolitiker auf die Menschen einzureden, doch durch unüberlegtes Handeln die Sowjets nicht zu provozieren. Bis auf wenige Ausnahmen wie den später nach Österreich emigrierten Politologen Zdeněk Mlynář und den Moskauer Unterschriftsverweigerer František Kriegel blieben alle in ihren Ämtern, wohl in einer Mi Versuch zu retten, was es mit dieser Politik und unter diesen Umständen nicht mehr zu retten gab. Die widerstandsbereite Bevölkerung wurde solange demoralisiert, bis sie resignierte oder sich zu den „unüberlegten“ Handlungen hinreißen ließ, vor denen ständig gewarnt wurde. Es ist nur wenig bekannt, dass sich der Student Jan Palach (und seine Adepten Jan Zajíc und Evzěn Plocek) 1969 eben nicht aus Protest gegen den Sowjet- Einmarsch, sondern gegen diese Politik des Nachgebens verbrannten. Ihren Höhepunkt fand diese unter starkem Druck der Sowjets und ihrer Helfer im Land erfolgte Selbstdemontage ein Jahr nach der Okkupation. In den Straßen Prags und Brünns versammelten sich die Menschen, um an den Jahrestag zu erinnern – niedergeknüppelt von tschechoslowakischen Einheiten aufgrund eines eilig verabschiedeten Gesetzes, das die Namen jener Männer trug, zu deren Unterstützung die Kundgebungen stattgefunden hatten: Dubček (damals nur mehr Parlamentspräsident), Svoboda, Černik. Alle drei verschwanden bald darauf in der politischen Versenkung. Die Macht übernahm jedoch nicht ein Hardliner, sondern der umgedrehte Reformer Gustav Husák.

Es war auch dieses unwürdige Nachspiel nach dem Einmarsch, das die Ideen des Jahres 1968 nachhaltig diskreditierte und letztlich dazu führte, dass Dubček als Einzigem von Bedeutung während der „Samtenen Revolution“ Reverenz erwiesen wurde. Das symbolträchtige Präsidentenamt übernahm jedoch nicht er, sondern der bereits 1968 deklarierte Antikommunist Václav Havel. Anstatt des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ oder eines „dritten Weges“ stand die Einführung der „Marktwirtschaft ohne Adjektive“ auf dem Programm, wurde der Prager Frühling zum Kampf zweier kommunistischer Fraktionen um die Macht gedeutet.

Verdrängte Geschichte #

Dies war er zweifellos, aber doch auch mehr. Reisefreiheit, die Einsicht, die in der Verfassung verankerte „führende Rolle“ der Partei nicht mit Gewalt, sondern Überzeugungsarbeit durchzusetzen, die angelaufene Rehabilitierung der Opfer der stalinistischen Schauprozesse, all das waren für eine sich an der Macht befindliche KP 1968 große Schritte gewesen. Mit der Aufhebung der Zensur und der allgemeinen Lockerung der Zügel hatte die KP-Führung jedoch nicht nur innerhalb der Partei, sondern auch in der Gesellschaft Kräfte freigesetzt oder deren Freisetzung zugelassen, die nur mehr schwer ohne Gewaltanwendung hätten wieder „eingefangen“ werden können und letztendlich in den Fragen geendet hätten: Demokratisierung oder Demokratie, führende Rolle der Partei oder doch Mehrparteiensystem? Insofern hatten der Sowjet-Chef Leonid Breschnew und seine Genossen so unrecht nicht, als sie die Gefahr einer „konterrevolutionären“ Entwicklung kommen sahen, auch wenn die Parteispitze in Prag nicht an eine Aufgabe des sozialistischen Gesellschaftsmodells und den freien Wettbewerb von demokratisch legitimierten Parteien gedacht hatte.

Mit der Entsorgung des Jahres 1968 war jedoch nach dem Umbruch von 1989 noch mehr verbunden, nämlich eine neue nationale Meistererzählung vom Kommunismus als russischer Importware, in Verkennung der eigenen, starken linken Traditionen des hoch industrialisierten Landes. Die große Übereinstimmung mit einem „nationalen“ Weg zum Sozialismus, sowohl nach dem Zweiten Weltkrieg als auch 1968, blieb dabei ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass viele der Privatisierer von 1989 zu den „Normalisierern“ der Jahre davor gehört hatten. Nicht zuletzt dieser wenig reflektierte Umgang mit der eigenen Geschichte ist mit ein Grund für die Leere, die die tschechische Politik bis heute prägt.

DIE FURCHE, 23. August 2018