!!!Das Eigene und das Fremde


!!Es war die ethnische Vielfalt im Donauraum, die durch Jahrhunderte das Wir-Gefühl der Österreicher bestimmte. Dann reduzierte man sich selbst zu Deutschösterreichern. Kann heute die Migrations- und Asylfrage zur großen Irritation der Gesellschaft führen?

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von 

__Hans Magenschab__

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Sie füllen mittlerweile Bibliotheken und
verstopfen das Internet: Die Rede ist von
jenen Materialien, die sich der pädago-
gischen, kulturellen, sozialen und poli-
tischen Aufarbeitung des Problems
"Fremdsein" angenommen haben - und
mit den Begriffen Familie, Heimat,
Vaterland jonglieren. Mehr denn je hat
wohl auch die Wirtschaftskrise dazu
beigetragen, dass sich viele Zeitgenossen
zwischen dem beruhigenden "Wir" und
dem gefährlichen "Anderssein" bewegen.
Der US-amerikanische Kulturphilo-
soph Samuel Huntington scheint recht
zu behalten, nachdem er 1993 den
"Kampf der Kulturen" vorhersagte. Die
Gegensätze von ethnischen Gruppen
sind wohl stärker und dauerhafter als
das Harmoniebedürfnis von Gutmen-
schen, Philanthropen, Christen und Humanisten.
Und so gewinnen auch in Österreich
die "nationalen" Fremdenhasser Zulauf.
Das Abendland muss "in Christenhand"
verbleiben, die "Pummerin statt dem
Muezzin" zum Gebet rufen und ansons-
ten die Regel (in miserablem Deutsch)
gelten: "Daham statt Islam".
Derartige fremdenfeindliche politische Bauernkalender-Sprüche haben im
dritten Lager Österreichs seit jeher eine
große Tradition. So forderte man im 19.
Jahrhundert auf Spruchbändern:  "Was
 
der Jude glaubt, ist einerlei, in der Rasse
liegt die Schweinerei." Zugleich skandierte man "Los von Rom" und "Deutsch-
land erwache" sowie Sprüche wie "Schluß
mit der Slawisierung".
Man gestatte eine Abschweifung: Es
war eine der zynischsten Aktionen des
Österreichers Adolf H., nach dem Anschluss der "Ostmark" an Großdeutsch-
land im Jahre 1938 auch hierzulande die
Einführung eines "Ariernachweises" anzuordnen. Dieses Papier hatte den primä-
ren Zweck, die Juden von den NichtJuden
bürokratisch trennen zu können; und es
entschied in vielen Fällen über Leben
und Tod. Aber viele Familien erfuhren
auf diese Art und Weise ganz nebenbei
davon, wer die Vorfahren waren und woher sie kamen; ob sie ehelich oder Frucht
der Liebe waren, welchen Beruf die
Ahnen hatten und wie "deutschösterreichisch" ihr Blut eigentlich war, für das
sie nichts konnten.

!Die Vielfalt der Donaumonarchie

Tatsache ist: Nirgendwo in Europa
hatte eine so radikale ethnische Durchmischung stattgefunden wie in der
Donaumonarchie; und nirgendwo konnte
man nationale Schranken, Sprachbarrieren und Religionsgrenzen problemloser
überspringen als in den Kronländern der
ehemaligen Donaumonarchie:
Da bestätigte sich die Liaison des
feschen polnischen Ulans Pavel - eines
 
"Tornisterkindes" - mit der Budapester
Kaffeesiederin Clara, die große Liebe der
slowakischen Köchin Magdalena zum
Triestiner Marineur Paolo, Budweis als
Heimat des Wiener Familienoberhauptes
Josef - dessen Kinder Partner aus dem
Venezianischen heirateten. Walpurga
war Köchin in Brunn und zog am Ende
ihres Lebens nach Innsbruck. Ihr Sohn
wurde bei den Tiroler Kaiserjägern
assentiert und fiel im Weltkrieg, sein
Bruder Johann ging zum modernsten
Verkehrsmittel der Zeit, zur Eisenbahn.
Und schließlich war da auch die schöne
Irena vermerkt, Junglehrerin aus Sie-
benbürgen, die Gedichte auf Deutsch,
Ungarisch und Rumänisch verfasste,
nachdem sie nach Wien gezogen war.
Ein Beispiel von vielen.
Wobei hinter all dem unzählige
Liebesgeschichten und Heiratssachen in
ruhigen und turbulenten Zeiten standen.
Freilich: Die Inttgrationswilligkeit im
alten Österreich stand außer Diskussion;
hatte doch der erotische Vordergrund
nur wenig mit dem ethnischen Hintergrund zu tun.
Es gab für die k.u.k.-Bürokratie aber
auch den Status politischer Flüchtlinge:
Nach dem belgischen Aufstand Ende
des 18. Jahrhunderts kamen Flamen aus
den österreichischen Niederlanden an
die Donau; danach königstreue Franzosen auf der Flucht vor der Revolution von
1789 und den Armeen Napoleons. Da gab
es habsburgloyale Italiener aus der Toskana und Lombardei sowie orthodoxe Ser-
ben, die - angeführt von ihren Popen -
begeistert über die österreichische Militärgrenze zogen; dazu zahlreiche von den
Türken verjagte Rebellen und Freischärler
zwischen Schwarzem Meer und Ungarischer Pforte. Schließlich Flüchtlinge aus
der gesamten Levante. Wer weiß etwa
heute noch, dass man im 18. Jahrhundert
 
auch hunderte "Wildgänse" aufnahm -
katholische Iren, die nach den verlorenen
Kriegen gegen die protestantischen Engländer im 18. Jahrhundert in die kaiserliche Armee eingetreten waren?
Eine zahlenmäßig große Immigrantengemeinschaft bildeten wohl die Juden
aus dem zaristischen Imperium, jiddisch
sprechende Bauern und Handwerker, die
im Mittelalter zuerst aus Deutschland
vertrieben worden waren, im 19. Jahrhundert aber genervt von den Pogromen
 
in Russland ins gelobte Habsburgerreich
drängten.

!Wien - die Stadt der Ausländer
So lebte gegen Ende des 18. Jahrhunderts die zahlenmäßig größte jüdische
Bevölkerung Europas in Städten unter
dem Doppeladler. Nach Schätzungen
waren um 1900 Budapest und Wien die
größten jüdischen Städte der Welt mit
einem eifrigen Vereinsleben, ja sogar mit
Sportvereinen wie der "Hakoah".
Zugleich aber war Wien auch die
größte tschechische Stadt der Welt; wobei
 
sich die Größenordnungen nur im Vergleich mit der Entwicklung anderer Ballungsräume messen lassen.
Einige Daten zum Vergleich:
Ganz Europa wies vor dem Ersten
Weltkrieg eine halbe Milliarde Einwohner auf. Auf dem Kontinent war der
größte Flächenstaat das Zarenreich Russ-
land (122 Millionen im europäischen
Teil); es folgten das Deutsche Reich mit
65 - und Österreich-Ungarn mit 51 Millionen Einwohnern. Dahinter erst ran-
gierten England mit 41 und Frankreich
mit 39 Millionen Einwohnern.
Dafür war Paris um 1900 mit 2,9 Millionen die größte Stadt auf dem Konti-
nent, Wien und Berlin nahmen mit je 2
Millionen Einwohnern die Plätze zwei
und drei ein. Zuvor hatte sich die Reichshaupt- und Residenzstadt an der Donau
zwischen 1880 und 1910 - fast verdreifacht. Das wäre heute so, als wäre in
Wien während der Amtsperioden von
Helmut Zilk und Michael Häupl die Bundeshauptstadt auf eine sagenhafte Größe
von 4,7 Millionen angewachsen - was
der heutigen Gesamtpopulation von Rom
und Mailand entsprechen würde - zusammengenommen ...

!Im Staat, den keiner wollte

Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges
hatte Österreich-Ungarn jedenfalls kein
Konzept für die Bewältigung der Wachstumsprobleme. Man glaubte, es würde
eine Selbstregulierung eintreten und irgendwann auch die Geburtenrate sinken.
Jedenfalls ging der arbeitslose Jungkünstler Adolf H. damals bereits durch
die Straßen Wiens und sah ausschließlich die negativen Seiten der k.u.k.-Welt:
Ein "Rassenbabel", in dem jüdische Männer arische Jungfrauen überfallen ...
Unterdessen tobte unter Wiens Juden
der Richtungsstreit, ob man sich besser
als religiös ausgerichtete "geschlossene"
Gemeinschaft verstehen - oder in der
multiethnischen österreichischen Gesellschaft aufgehen sollte.
Dann freilich kam das Jahr 1918. Wie
sollte es mit dem zerstückelten Leichnam
Altösterreich weitergehen? Aus wem bestand die eigene "nationale" Gemeinschaft - und wer waren jetzt die "Ande-
ren", die Fremden?
Die Republik hatte über Nacht eine
Einwohnerschaft von lediglich sechs
Millionen hungernder und frierender
Bürger, die kaum akzentfrei sprachen.
Das sollte für eine eigenständige Existenz reichen? So machte - und das war
einmalig in der abendländischen Geschichte - ein souveränes Staatsvolk vor
aller Welt bekannt, dass es nicht länger
ein solches sein wolle. Die Vorarlberger
waren schon auf dem Weg zur Schweiz,
andere Regionen wollten gleichfalls abdriften; das Burgenland gehörte zu West-
ungarn. So beschloss am 12. März 1919
die Nationalversammlung in Wien einen
"Rettungsbeschluß", dass nämlich Österreich Teil der Deutschen Republik sein
solle.

So war der Begriff "Deutschösterreich" nicht die Formel für die Selbstaufgabe, sondern für das Überleben ...
Sprachen doch die Österreicher
Deutsch (wenngleich viele mit Akzent),
hatten viele an der Seite der deutschen
"Waffenbrüder" den Ersten Weltkrieg
durchgefochten; und hatten diese
Deutschösterreicher jahrhundertelang
wesentliche Beiträge zur deutschen Literatur und Kunst geliefert. Alle diese
Volkstum-Argumente posaunten nunmehr die eigenen Deutschnationalen in
die Welt - hatten sie doch schon immer
nach Reichsdeutschland geblickt und die
Donaumonarchie verachtet.

Für die österreichischen Sozialdemokraten wiederum war es ein gewichtiges
Argument, dass sich das revolutionäre
Deutschland nach 1918 zu einer Republik
mit einer Linksregierung gewandelt hatte - und da wollte man unter der roten
Fahne mit dabei sein.
 
Alles Weitere ist bekannt: Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs machten
diesem Wunschdenken durch den Staatsvertrag von St. Germain ein Ende und
dekretierten ein Anschlussverbot Österreichs an die Deutsche Republik. Zu-
gleich amputierten sie Südtirol und
zwangen die Böhmen-Deutschen, als
Minderheit in der neu gebildeten Tschechoslowakei zu bleiben.
Daher richtete sich auch bald die
Aversion der Österreicher - wir sind
"verraten und verkauft" - direkt gegen
die westliche Demokratie; womit die
Alpenrepublik aber erst recht ins politische Niemandsland fiel.
Wir alle wissen Bescheid, wie es weiterging: Die Erste Republik wurde wirk-
lich zum "Rest" (wie sie der französische
Ministerpräsident George Clemenceau
bezeichnet hatte), entschied sich gegen
die Demokratie und gegen eine Österreichische Nation. Zwanzig Jahre Gehirn-
wäsche unter der Chiffre "Deutschöster
reich" - oder später "Ostmark" - zeigten
ihre Wirkung.

!Nach 1945 - der Weg zur Nation

Erst Bundeskanzler __Julius Raab__ erfand nach 1945 eine Formel, derzufolge
die Muttersprache der Österreicher zwar
deutsch sei, ihr Vaterland aber Österreich
heiße. Vom Begriff des "Vaterlandes" war
es nicht weit zur Akzeptanz der Neutralität als einer Art Ideologie. Etymologen
verwiesen auf den Umstand, dass Österreich wohl eine "Nation" sein müsse,
wenn es einen Nationalrat, eine Nationalbank, eine Nationalbibliothek und ein
Nationalteam in Österreich gibt.
Aber noch 1964 erklärten lediglich
47 Prozent - dass man eine "Nation"
sei; 1977 waren es dann 62 Prozent -
und heute geht der Prozentsatz über 90
("Österreichische Gesellschaft für Europapolitik").
So erfreulich diese Kunde ist, umso
mehr muss man den Kopf schütteln, wie
die Österreicher auf das Eigene und das
Fremde reagieren. Von Befragung zu Befragung wächst der Anteil jener, die die
Rollbalken gegen jeglichen Zuzug herablassen wollen; und immer politischer
wird die humanitäre Frage nach der offiziellen Asylpolitik gestellt.
Müssen wir als verspätete Nation jetzt
durch das Fegefeuer der Xenophobie laufen, bevor wir in den Vorhimmel der
Weltbürgerlichkeit eintreten?
Oder ist gar liberales Gutmenschentum versus die "Mir san mir"-Krakeeler der Beitrag Österreichs zum Clash of
Civilizations?
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Der Artikel erschien in der niederösterreichischen Kulturzeitschrift __"morgen"__ Nr. 6/09
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