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Georg Hamann: 60 x Wien wo es Geschichte schrieb#

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Georg Hamann: 60 x Wien wo es Geschichte schrieb. Menschen, Mächte, Momente. Amalthea-Verlag Wien. 304 S., ill., € 30,-

Der Historiker Georg Hamann hat schon vor einigen Jahren "Wiens unerzählter Vergangenheit" ein Buch gewidmet. Er nannte es 50 x Wien wo es Geschichte schrieb. Es war nur eine Frage der Zeit, wann weitere Orte dazukommen würden, denn vorhanden sind sie in Fülle. Jetzt ist es soweit und es sind sogar 60 "Adressen mit Geschichte" geworden. Das Konzept war denkbar einfach, erinnert sich der Autor an den ersten Band: 50 Orte der Stadt dienten als "Aufhänger" für Geschichten, die nicht in jedem Touristenführer erwähnt werden und somit eher unbekannte Aspekte der Wiener Stadthistorie abdeckten. Die Auswahl fiel schon damals schwer. Und so folgen jetzt dem "Unbekannten, Unerwarteten und Unglaublichen" Geschichten über "Menschen, Mächte und Momente" - wieder ebenso informativ wie unterhaltsam. Der Zeitrahmen ist erweitert worden, vom römischen Kaiser Probus über Mittelalter, Barock, Gründerzeit und Zwischenkriegszeit bis zur "Weißen Rose von Wien".

Entgegen weit verbreiteter Mythen war es nicht Kaiser Marcus Aurelius Probus (+ 282), der den Weinbau in den äußeren Provinzen des römischen Reiches einführte. Schon lange bevor die Römer ihre Herrschaft bis an die Donau vorschoben, wurde dort von den Kelten Wein kultiviert. Probus' Verdienst war es "nur", das Anbauverbot seines Vorgängers Domitian aufzuheben (dieser wollte im 1. Jahrhundert die Exportwirtschaft des italischen Mutterlandes stützen) und edle Weinsorten aus Italien im Donauraum anpflanzen zu lassen. In der Folge entwickelte sich der überregionale Weinhandel zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige Wiens. Um das Jahr 1400 produzierte man rund um Wien die gewaltige Menge von 100.000 bis 140.000 Hektolitern pro Jahr (zum Vergleich: 2020 waren es rund 25.000 Hektoliter.) … Berechnungen zufolge lag der tägliche Pro-Kopf-Verbrauch bei 1,3 Litern. Grundsätzlich hatte jeder Bürger eine Schanklizenz. Schon damals war es üblich, mit Tannenreisig "auszustecken" … nicht erst in der Zeit Kaiser Josephs II., räumt der Autor mit einem zweiten, weit verbreiteten Irrtum auf. Um 1700 begann das Bier, dem Wein den Rang abzulaufen, im 19. Jahrhundert war es das Hauptgetränk der einfachen Bevölkerung. Seit 1894 erinnert die Probusgasse in Döbling an den römischen Kaiser. Das Mosaik an einem Wohnhaus aus den 1950er Jahren zeigt ihn mit Amphore und Weintraube, dazu Romulus und Remus mit der Wölfin.

Die mittelalterliche Reliquienverehrung erscheint auf den ersten Blick kurios. Aus dem Blickwinkel ihrer Zeit wird sie verständlich. Auf dem Stephansplatz errichtete man ein eigenes Gebäude, um den Gläubigen die Heiligtümer zu zeigen. Von den 1480er bis in die 1520er Jahre war die Reliquienweisung am Heiltumstuhl am weißen Sonntag Ziel zahlreicher KatholikInnen. Sie erhofften sich von der Schaufrömmigkeit die Hilfe der verehrten Heiligen und den Beistand Gottes. Die Kirche belohnte die Gläubigen mit einem Ablass. Bei den Regenten steigerte der Besitz von Reliquien ihre Legitimität. Einer der berühmtesten Reliquiensammler war Herzog Rudolf IV., "der Stifter". Was an wertvollen Behältnissen nicht in Notzeiten eingeschmolzen wurde, ist in der geistlichen Schatzkammer der Hofburg und in der Valentinskapelle im Stephansdom zu sehen - als Blick in eine weit zurückliegende Vergangenheit und ihre religiösen Vorstellungen.

Eine ganze Reihe von Kapiteln gibt Einblick in die Barock-Kultur. Der Tuchmacherbrunnen auf der Tuchlauben erinnert seit 1928 an eine Blütezeit der dort ansässigen Textilgewerbe. Das Tragen modischer Kleidung und teuerer Stoffe war streng reglementiert. Seit der Zeit Karl des Großen um 800 gab es offizielle Kleiderordnungen. Luxus galt als Sünde, doch diente er in erster Line der Differenzierung der einzelnen Stände und dem Prestige der Oberschichten. Seit der Barockzeit argumentierten die Herrscher mit ökonomischen Motiven. 1671 erließ Kaiser Leopold I. das Luxuspatent. Die Bevölkerung (der Adel ausgenommen) wurde in fünf Klassen eingeteilt. Kleidung, Möbel und Feste waren dem entsprechend erlaubt bzw. verboten. Obwohl strenge Strafen drohten, blieben die Vorschriften eher erfolglos.

Ein wertvolles Gut war das Porzellan, das man "weißes Gold" nannte. Die zweite Manufaktur Europas befand sich in Wien. Sie bestand von 1718 bis 1867 und war trotz einiger Rückschläge für die Qualität ihrer Produkte weithin berühmt.1923 erfolgte die Neugründung im Augarten. Blitzlichter auf das Leben der einfachen Leute werfen Kapitel über Lakaien, Polizisten und Sesselträger. Daneben gab es Aufsteiger, wie den Komponisten Joseph Haydn, den privilegierten Hofbuchdrucker Johann Thomas Trattner, den Theatermacher Emanuel Schikaneder, den Flugpionier Jakob Degen oder die Feuerwerker-Dynastie Stuwer.

Im 19. Jahrhundert mehren sich die Persönlichkeiten mit außergewöhnlichen Biographien, beispielsweise der "Teufelsgeiger" Niccolò Paganini, die griechischen Kaufleute Freiherren von Sina oder der "Kassenbaron" Franz von Wertheim. Nach der Revolution von 1848 traten zunehmend Frauen öffentlich in Erscheinung, etwa die Präsidentin des Wiener Demokratischen Frauenvereins, Baronin Karoline von Perin, die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner oder Rosa Mayreder, eine Galionsfigur der österreichischen Frauenbewegung.

Georg Hamann beleuchtet in seinen sechzig historischen Miniaturen Orte, Menschen und Ereignisse. Die Auswahl ist ausgewogen, die Themen sind mehr oder weniger bekannt. Sie umfassen Alltags- und Sozialgeschichte ebenso wie Politik und Biographisches. Der Autor präsentiert sie kompakt, seriös und treffend illustriert. Stadtpläne zeigen die Schauplätze, die sich fast alle in der Inneren Stadt befinden. Literaturverzeichnis und Namensregister runden die überaus lesenswerte Darstellung ab.

hmw