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Martinibräuche#

Helga Maria Wolf:
Der "volkstümliche" Martin

Martini-Umzug Hernals 2013, Foto: Doris Wolf

Martinsbräuche sind zahlreich, vielfältig und international. Als wichtigste Elemente zeigen sich Trinken und Essen, Feuer und Licht, Heischen und Umherziehen.

Alte Bräuche und neue Events verbinden sich am Fest des heiligen Martin. Der deutsche Volkskundler und Germanist Karl Meisen (1891-1973) meinte, er unterscheide sich "von anderen volkstümlichen Heiligen, als bei ihm die Volkstümlichkeit nicht nur aus der legendarischen Überlieferung erwächst, wie sich dies bei mancher anderen Heiligengestalt mehr oder weniger deutlich beobachten lässt, sondern bei vielen Erscheinungen auch an Geschehnisse seines Lebens anknüpft." Gregor von Tours (538-594) der siebente Nachfolger Martins als Bischof und bekannter Geschichtsschreiber der Franken, berichtete einiges über das Weinpatronat. Martin hätte einen wunderwirkenden Weinstock gepflanzt. Einem armen Fährmann hätte er Wein geschenkt, damit dieser wie alle anderen am Epiphanietag feiern konnte. Mit Wasser, das man auf das Grab des Heiligen stellte, sollen sich Weinwunder ereignet haben.

Eine besondere Rolle kam der Martinsminne zu. Wie bei Festen anderer Heiliger (Gertrud von Nivelles, Johannes Evangelist, Johannes der Täufer, Erzengel Michael, Sebastian, Stephan, Urban, Ulrich von Augsburg) wurde zu Martini in der Kirche Wein gesegnet und zu deren Ehren getrunken. Das Minnetrinken war ein alter - seit karolingischer Zeit - belegter und weit verbreiteter Brauch. Man erhoffte sich von dem Getränk Hilfe in schwierigen Lebenssituationen und einen guten Tod. Die Minne sollte vor Zauberei, Vergiftung, Ertrinken und Blitzschlag schützen, Männer stark und Frauen schön machen. Sie war Medizin, Abschiedstrunk, Brautsegen, Schutz für Wein und Landwirtschaft - ein Universalmittel für und gegen alles.

Der Asket als Weinpatron

Dennoch wirkt es seltsam, dass ausgerechnet Martin von Tours, der nach dem Zeugnis seiner Biographen asketisch gelebt hat, nicht nur zum Patron des Weins und der Winzer, sondern auch der Zecher und Vaganten geworden ist. Dies hängt wohl weniger mit seiner Person, als mit dem Datum des überlieferten Todestags zusammen. Martini am 11.11. galt im Mittelalter als Abschluss der herbstlichen Erntearbeiten, Zinstermin und Tag des Gesindewechsels. Danach kam der Advent als Fastenzeit. Die ausgelassenen Feiern am Tag bzw. am Vorabend fanden ihre Parallele am Faschingdienstag, nach dem am Aschermittwoch die 40-tägige vorösterliche Fastenzeit beginnt. In der christlichen Tradition Galliens bestand zunächst die Quadragesima Sancti Martini, die vom 12. November bis zum Epiphanietag währte. Die 40 Tage, die an das Fasten Jesu in der Wüste erinnern sollten, zählte man (mit Ausnahme der Samstage und Sonntage) vom Dreikönigstag rückwärts. 581 bestimmte die erste Synode von Mâcon (Frankreich): "Vom Tag des hl. Martin bis an Weihnachten muss am Montag, Mittwoch und Freitag jeder Woche gefastet werden. Das Opfer ist nach Art der Quadragesimalzeit zu feiern. Auch sollen die Canones (Verordnungen) verlesen werden, damit niemand bei einem Fehler Unwissenheit vorschützen kann."

Im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit fand die Martinsnacht in zahlreichen Liedern und Dichtungen Niederschlag:

  • Um 1160 forderte Archipoeta ("Erzdichter", * zwischen 1125 und 1135 - nach 1165), einer der bedeutendsten lateinischsprachigen Dichter des 12. Jahrhunderts und ein Vertreter der Vagantendichtung, den Kölner Erzbischof und Kanzler Reinald von Dassel zu einer Weinspende nach dem Vorbild des Heiligen auf. Der Dichter, der auch einen Mantel und eine Tunika forderte, verglich seinen Gönner mit dem heiligen Martin, dem Inbegriff der Freigiebigkeit.
  • Im 13. Jahrhundert widmete der als "der Stricker" bekannte, in Österreich wirkende Dichter der Sankt Martinsnacht eine 214 Verse umfassende, mittelhochdeutsche Dichtung. Sie handelt von einem reichen Bauern, der zu Martini in seinem Haus ein Zechgelage abhält. Sogar das Gesinde darf Wein trinken, so viel es will. Als alle sinnlos betrunken sind, schleicht sich eine Diebsbande in den Stall. Vom Bellen der Wachhunde aufgeschreckt, wankt der Bauer hinaus und überrascht den Anführer. Dieser tut so, als ob er Sankt Martin wäre, segnet das Vieh und den Bauern. Der ist davon so begeistert, dass er seine Kumpanen auffordert, zu Ehren des Heiligen zu trinken und zu essen, bis die Vorräte aufgebraucht sind. Während dessen treiben die Diebe alles Vieh aus dem Stall. Am nächsten Tag gibt es für den Bauern und seine Familie ein trauriges Erwachen. Die Bäuerin bezeichnet ihren Mann als einziges Rindvieh, das ihnen geblieben ist.
  • Der als Mönch von Salzburg bekannte, anonyme Dichter des 14. Jahrhunderts schrieb zum Fest zwei Lieder. Das kürzere ist ein dreistimmiger Kanon: "Martin teurer bester/ jetzt laß uns fröhlich sein. / Heut zu deinen ehren / durch deine Macht allein / sollst uns die Gäns vermehren / und auch den kühlen Wein / Gesotten und gebraten / stopf alles in uns rein." In der längeren vierteiligen Dichtung "Von Sankt Martins Freuden" reimt er u.a. "Gieß aus schenk ein / Willkommen Herr Martin tritt nur ein / bester verehrter vertrauter Mann tritt ein / schenk ein und schenk nach vom herben Wein / denn wir wollen selig trunken sein…"
  • Der deutsche Komponist Georg Forster (um 1510 - 1568) gab zwischen 1539 und 1556 die fünfbändige Liedsammlung "Frische teutsche Liedlein" heraus. Unter den Kinder- (Heische-) liedern und Gesellschaftsliedern (Tisch- und Weingesänge) finden sich mehrere zum Martinstag.
  • Der evangelische Theologe und neulateinische Dichter Thomas Kirchmair (auch Naogeorg, 1508-1563) schildert in seinem 1555 erschienenen Pamphlet "Päpstisch Reych" das (katholische) Bacchusfest zu Martini. Die Polemik enthält alle Elemente des mittelalterlichen Brauchs: Ausgelassenheit, Gänseessen, Trinken von Most und jungem Wein, Heischegang der Schüler.
  • 1668/69 erschien der Roman "Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch" über die Zustände während des 30-jährigen Krieges. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622-1676) schreibt in seinem Hauptwerk über die Martininacht: "Da fängt bei uns Teutschen das Fressen und Saufen an und währet bei teils bis in die Faßnacht." An anderer Stelle lässt der Dichter seinen Helden sagen: "Da wurde ich an unterschiedliche Ort, sowohl bei Offizirn als Bürgern, die Martinsgans verzehren zu helfen eingeladen."
Der deutsche Volkskundler Matthias Zender (1907-1993) weist darauf hin, dass der mittelalterliche Martinstag eines von rund 40 kirchlichen Festen mit Arbeitsruhe war. Man kannte den Termin bis weit nach Italien, nach Osten und Skandinavien - allerdings nicht als einzigen für Lieferungen und Zahlungen. Während die anderen Bauernfeiertage verschwanden, blieb Martini bis ins 20. Jahrhundert in Teilen Frankreichs, Belgiens und Deutschlands der wichtigste Tag des Gesindewechsels. Im Rheinland war der 11. November als "Tag der ungebotenen Dinge" einer der "Hofabende", an denen der Grundherr zu einem Festessen für alle Teilnehmer verpflichtet war. Wenn der Forscher von Einzelformen, Resten und Bruchstücken mittelalterlicher Bräuche und Feiern spricht, denkt man an Weintrunk, Gansessen und Geschenke. Rückblickend ist interessant, dass in den 40 Jahren seit Erscheinen des Artikels viele dieser Elemente neu belebt wurden.

Martin, so wird überliefert, macht Wasser und Most zu Wein, den Sturm zum Heurigen und den Heurigen zum Alten. Ab Martini darf man damit anstoßen und "Prost" sagen. Der langjährige Direktor des Österreichischen Museums für Volkskunde, Leopold Schmidt (1912-1981), verweist auf die Gebräuche zu den herbstlichen Heiligenfesten, die zugleich alte Zinstermine waren. An solchen Terminen, wie Martini, wurde im Mittelalter vor allem in den Klöstern gefeiert. Darüber hinaus "haben die Bauern daran Anteil genommen, und bei ihnen sind wesentliche Züge später noch bewahrt worden. … Dazu gehört der festliche Trunk, das 'Martiniloben', das als Erinnerung an eine alte Martinsminne angesprochen werden darf. … Der Trunk selbst, dieser Martinitrunk, war auch brauchmäßig festgelegt, er wurde offenbar vielfach von den Gemeinschaften ihren Untergebenen als termingerechter Lohn gegeben. So sind für Wien die Belege für die Jahre um 1786 erhalten, dass die Stadt Wien den in ihrem Dienst stehenden Handwerkern den Martinitrunk bezahlte. … In Neusiedl an der Zaya und im benachbarten Südmähren hat man eine Zeitlang einen Umzug mit dem Martinslied 'Heint ist die heilige Martininacht / Da wird der Most zu Wein gemacht' durchgeführt. " Vom 15. Dezember 1770 datiert ein Gesetz, in dem es heißt. "Bei Handwerkern wird die Sammlung des Martinitrunkes verboten."

Im Burgenland, aber auch in Wien und Niederösterreich, erfreuen sich die alten Bräuche Martiniloben und Weintaufe neuer Beliebtheit. Als Beispiel sei das Fest zitiert, das alljährlich zu Martini im "Langen Keller" von Friedl Umscheid in Herrnbaumgarten (Niederösterreich) stattfindet. Es entstand 1984 zum 200. Jahrestag der Zirkularverordnung, mit der Kaiser Joseph II. den Weinhauern erlaubte, Eigenbauwein im eigenen Haus ohne besondere Lizenz auszuschenken. 2004 heiß es dazu: "Bei der Weintaufe dabei zu sein, gilt als eine der größten Auszeichnungen, die ein Weinhauer aussprechen kann. Die Feier im familiären Kreis wurde und wird bereichert durch das Einladen der Nachbarschaft, der Leser, der Abnehmer und der 'Lober'. Der Lobspruch auf den jeweils zu lobenden Wein wird alle Jahre unter dem Namen des Paten im Kellerbuch vermerkt. Am 1. November 1781 hob Kaiser Joseph II. durch das 'Untertanenpatent' in den böhmischen Ländern die Leibeigenschaft auf. Die Bauern hatten nun das Recht auf eigenen Grund und Boden und somit auch die Möglichkeit, eigenen Wein anzubauen und mit diesem zu handeln. Was den Weinbauern aber noch fehlte, war die nötige Erfahrung des 'Händels mit Wein und Feldfrüchten'. So mancher Hauer bat nun seinen ehemaligen Dienstherrn oder auch die hohe Geistlichkeit, für die heurige Ernte 'gradzustehen'. Die nun so genannten Weinpaten sorgten somit auf ihre Art für den Absatz des köstlichen Tropfens. … Martini ist, nach wie vor, der früheste Termin, die Qualität des neuen - noch namenlosen - Weines zu beurteilen und ihn somit auch beim neuen Namen zu nennen, ihn zu loben." Bei den Weintaufen in den letzten Jahren treten nicht nur - mehr oder minder prominente - Paten in Aktion, sondern auch hochrangige Priester. So der Klosterneuburger Propst Bernhard Backovsky, der als "Weinpapst" bekannte Albrechtsberger Pfarrer Johann Denk, Kardinal Dr. Franz König, der Göttweiger Abt Clemens Lashofer oder der steirische Generalvikar Heinrich Schnuderl. Sie "taufen" den Wein nicht, sondern segnen ihn - wie die mittelalterliche Martinsminne.

Die Martinigans

Wo man reichlich Wein trinkt, darf die passende "Unterlage" nicht fehlen, zu Martini ist es die Martinigans. Der Steirische Mandlkalender, der erstmals 1708 ähnlich der heute noch gedruckten Form erschien, zeigt am 11. November eine "bratfertige Gans", die allerdings schwer als solche zu erkennen ist. Sie wirkt eher wie ein gelbes Ei.

Die Gans hat noch weniger mit dem Bischof zu tun als der Wein. Die ätiologische Sage aus der Bretagne, wonach schnatternde Gänse das Versteck des Heiligen verraten hätten, in das er sich zurückzog, um der Bischofswahl zu entgehen, ist jünger als der Brauch. Auch ihm liegen der (nach Michaeli wichtigste) bäuerliche Zinstermin und das Festmahl zugrunde. Leopold Schmidt schreibt: "Der Bauer mit der Zinsgans ist eine stehende Figur der mittelalterlichen Bildvorstellungen geblieben … Die Martinsgans kam gerade zur Feier der verschiedenen Herbstfeste zurecht. Musste schon der Gänsezins entrichtet werden, so aß man den Gänsebraten bei den Schlussfesten der Lese- wie der Pressarbeit im Weinbau auch selbst … Solche festliche Gänseessen dürften im klösterlichen Bereich schon seit dem 12. Jahrhundert üblich gewesen sein. Die Nachrichten mehren sich freilich erst im 16. Jahrhundert in den Weinorten, beispielsweise in Spitz und Krems, wo jeweils von der 'Pressgans' berichtet wird."

Dazu passt ein Zitat aus dem "Weltbuch" des deutschen Chronisten Sebastian Franck (1499-1542/43) anno 1534: "Unselig ist das hauß, das nit auff deß nacht ein ganß zuo eßn hat." In Oberösterreich trieb man zu Martini keine Gänse aus, weil jeder das Recht hatte, sie wegzunehmen. So sollten auch arme Leute zu ihrem Gänsebraten kommen.

Wie einst der reformatorische Pamphletist Naogeorg über den Wein, spottete der aufgeklärte Universalgelehrte Johann Siegmund Valentin Popowitsch (1705-1774) über die Les- oder Lichtgänse , "welche von eigennützigen Herren um Martini gegeben werden". Die Arbeiter in den Weinbergen erhielten sie als zusätzlichen Lohn, die Handwerksgesellen, weil sie ab November bei Licht arbeiten mussten, aber nicht nur diese: "Bei den Bettelmönchen bekommen die Sammler die Lesgans, und der das meiste heimgebracht hat, wird zum König dabei erklärt. Das ist eine Belustigung, welche die Laienbrüder unter sich haben, allein auch zugleich eine Anspornung, dass sie fein unbescheiden im Begehren und Betteln sein sollen, um zur königlichen Ehre zu gelangen."

Popowitsch bemerkte nicht als einziger: "Man spricht Lesgans, wenn auch keine Gans sich bei der Mahlzeit befindet". Gemeint ist überhaupt besseres Essen, vor allem Schweinsbraten. Regional sprach man vom "Speckmärtel". Auch hier lag die Verbindung mit dem Schlachttermin nahe, umso mehr, als es an Konservierungsmöglichkeiten fehlte. Die üppige Mahlzeit zum Schwellenfest, dem Übergang vom Spätherbst zum Winter, könnte im Sinn des guten Omens gedeutet werden: "Wie der Anfang, so das Ganze" oder "Anfang gut - alles gut!"

Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens nennt neben der Gans eine ganze Reihe anderer Martinsvögel, wie Spechte, Wiedehopf, Schwalben und Eisvogel. Sie sollen als Glück bringende Verkörperung des Heiligen gegolten haben. So schrieb der adelige Tiroler Hans Vintler (+ 1419) in seiner Lehrdichtung "Blumen der Tugend" 1412 über den zeitgenössischen Glauben: "… ich haun gesechen sant Martis vogel / hewt an dem morgen fru / mir stosset kein unglück nit zu."

Nicht nur die Superstition, auch die Theologie nahm sich der Gans an. Der Südtiroler katholische Pfarrer Melchior de Fabris verfasste eine "schöne nützliche" Predigt "Von der Martins Gans", die 1595 gedruckt wurde. Darin beschreibt er "wie und was gestalt wir S. martins Gans essen / vnd vnser leben in ein andern gang richten sollen". Als Motto stellt er einen Vers aus dem Buch Hiob voran: "Doch frag nur die Tiere, sie lehren es dich, die Vögel des Himmels, sie künden es dir." (Hiob 12, 7, Das unbegreifliche Walten Gottes). Der Prediger verweist auf den Zusammenhang zwischen den Worten der heiligen Schrift und den Bräuchen, die er "der Laien Bücher" nennt.

In den vergangenen Jahrzehnten ist das Martiniganslessen (wieder) ein geselliger Brauch geworden. Wurden in den 1960er Jahren in einem Bad Ischler Gasthof 40 Gänse geschlachtet, so fand man, dank gezielter Werbung, später mit dieser Zahl nicht mehr das Auslangen. 1982 statteten Vertreter der Landesgruppe Burgenland des Bundes Österreichischer Gastlichkeit samt Trachtenmusikkapelle und Volkstanzgruppe dem damaligen Minister Herbert Salcher (* 3. 11. 1929) einen Geburtstagsbesuch ab. Im Blauen Salon des Finanzministeriums überreichten sie ihm rot-gelbe Äpfel, Apfelschnaps und vor allem eine Martinigans. Der solcherart Geehrte "versprach, das Federvieh nicht zu rupfen - 'sie wird bei mir zu Hause an Altersschwäche sterben' - und bis dahin gut zu halten. 'So lange ich Finanzminister bin, verhungert in Österreich nicht einmal eine Gans'", zitierte ihn "Die Presse".

1995 meldete das Agrarische Informationszentrum einen Bestand von 26.500 Weidegänsen, davon die Hälfte in Niederösterreich. Hingegen seien Brauchtum und Gänsegenuss im Burgenland "immer noch besonders stark verbreitet". 1996 lud Gänserndorf (Niederösterreich), die Stadt, die Gans im Namen und im Wappen führt, zum "größten Martiniumzug aller Zeiten" ein. 50 Gruppen aus Wien, Niederösterreich und dem Burgenland nahmen teil, die örtliche Gastronomie stellte sich mit Martinigansl-Spezialitäten ein. Zwei Jahre später, als das Event zum zweiten Mal stattfand, berichtete der "Kurier" von "Tausenden Schaulustigen" bei der "Marchfelder Traditionsveranstaltung" (!). 1998 sollten in ganz Österreich "250.000 Martinigänse aufgetischt" werden. Tierschützer protestierten, wie der "Kurier" am 13. November 1998 berichtete. In der Nacht auf 11. November sprühten Aktivisten übelriechende Buttersäure in acht Wiener Restaurants.

Im November 2000 jubelte eine Regionalzeitung: "So ein Gansl ist wirklich etwas ganz, ganz Feines. Dazu noch der richtige Wein, das wird ein wahrer Genuss!" 2007 konnte man "Gänse vom Prälaten im Waldviertel" in limitierter Stückzahl beim Supermarkt telefonisch vorbestellen. Am 3. November 2010 erinnerte die Tageszeitung "Österreich" ihre Leser, beizeiten an Tischreservierungen zu denken, denn "In ganz Wien findet sich kaum ein Gasthaus, das das Martiniganserl nicht auf der Speisekarte stehen hat." Die Wiener Bezirkszeitung berichtete am 9. November 2011 von Restaurantbesuch verschiedener "Promis" in einem Nobelrestaurant: "Man ließ sich nicht lange bitten und so kam die heimische Society herbeigeflogen … gönnte sich voller Genuss das traditionelle Must-Eat". Die Gratiszeitung "Heute" titelte einige Tage davor: "Prominente verraten, wo der Braten am besten schmeckt" und schrieb: "Ganz Wien läuft das Wasser im Mund zusammen. Ganslessen ist jetzt DAS lukullische Thema…" Das "größte Martinigansl-Essen der Stadt" am 11.11.2011 fand im Rathauskeller statt. 400 Personen kamen in den Genuss eines Drei-Gang-Spezialmenüs um 35 Euro. Im Supermarkt kostete 1 kg ungarische Tiefkühlgans in der Aktion 6,99 statt 9,49 Euro. Hingegen stellte "Heute" einen Klosterneuburger Heurigen vor, der 100 Gänse "mit gans viel Liebe" aufzieht. " 'Seit sechs Monaten füttere ich sie jeden Tag mit Gemüse und Obst', sagt er wehmütig", zitiert ihn das Blatt im Oktober, als das Federvieh noch im hauseigenen Teich seine Runden zog, doch in einem Monat "schwimmen sie zu Ehren des Heiligen Martin im Bratensaft - perfekt mit Rotkraut, Knödel, Bratapfel, Maroni und danach einem Verdauungssschnapserl". Ein niederösterreichisches Restaurant, das sich und seine Gäste regelmäßig in den Society-Spalten findet, lud Anfang November 2012 "zum gschmackigen Gansl-Schmaus samt 'Goldener Gänsekiel-Verleihung" ein. Einen ganz anderen Brauch gab es da schon seit 2003 in Grinzing: "Am Martinitag wurde eine Schar Gänse auf die Straße getrieben. Mit dieser Initiative wollen die Grinzinger die Autofahrer bitten, vorsichtiger durch ihren Ort zu fahren! Selbstverständlich landen diese speziellen Martinsgansln nicht im Topf." (Bezirkszeitung 18/2003) Übrigens hat der Nachbarort Sievering 1987 einer Gans sogar ein Denkmal gesetzt. Die Gans Lilli hatte ihren Lieblingsplatz auf den Schienen der Straßenbahnlinie 39, deren Endstation sich bis 1970 dort befand. Der Fahrer musste aussteigen und das Tier wegtragen, um die Durchfahrt zu ermöglichen.

Feuer und Licht

Wenn die Tage kürzer werden, sind Feuerbräuche angebracht, wie zur Sonnenwende. Doch ist dies nicht der einzige Grund für Jahresfeuer, die man auch zu Terminen wie Ostern, Pfingsten, in der Fastenzeit und verschiedenen Heiligenfesten abbrennt. Die Feuer- und Lichtbräuche zu Martini sind nicht monokausal zu erklären. "Über die Herkunft des Feuer- und Lichtbrauchs ist schon viel spekuliert worden", schreibt der deutsche Volkskundler Alois Döring: "Längst von der volkskundlich-historischen Forschung widerlegt ist die Deutung eines germanischen Brauchursprungs. Die Volkskundler Dietz-Rüdiger Moser und Werner Mezger machten in jüngster Zeit auf den Zusammenhang zwischen Tagesevangelium und Lichterbrauch an Sankt Martin aufmerksam."

Die ältesten Nachrichten über Martinsfeuer am Niederrhein und in den Niederlanden liegen aus dem 15. Jahrhundert vor, liefern aber keine Beschreibung des Brauchablaufs. Kinder und Jugendliche sammelten mit speziellen Heischeliedern Brennholz. Auch altes Bettstroh und Körbe wurden verbrannt. Die Asche kam auf die Felder, um den Ertrag zu steigern. Es loderten hohe Holzstöße und kleinere Feuer, über die man (wie zur Sonnenwende) sprang. Mancherorts verbrannte man eine "Martinus" genannte Strohpuppe. Für Katholiken soll sie ein Symbol für Martin Luther (1483-1546) gewesen sein. Andererseits hatte das Fest bei den Protestanten gerade wegen des Vornamens des Reformators eine gewisse Akzeptanz. In Städten (Münster, 1705) traten, wegen der Feuersgefahr, oft Kerzen an Stelle der Feuer.

Leopold Schmidt nennt das Rhein-Mosel-Gebiet als Heimat der Martinsfeuer, doch beschreibt er auch eines, das am 11.11.1355 auf der Steinernen Brücke über den Tagliamento in Venzone (Friaul, Italien) stattfand. Dabei bleibt offen, ob es sich um ein Freudenfeuer, einen Rechtsbrauch - als Zeichen der Inbesitznahme durch den Habsburger Herzog Albrecht II.( 1298-1358) - oder einen Brauch zum jahreszeitlichen Einschnitt ("Martins-Neujahr" als Winterbeginn) handelte.

Der wohl populärste Brauch, der im Burgenland und weit darüber hinaus gepflegt wird, ist der Lichterumzug der Kindergartenkinder. Sie gehen mit selbst gebastelten, beleuchteten Laternen und singen dazu Martinslieder. Schon beim früheren, "wilden" Martinsbrauch trugen Kinder Stöcke, an denen sie Lichter aus ausgeschnittenen Rüben, Kürbissen etc. mit Kerzen darin, befestigt hatten. Orte und Jahreszahlen der Einführung des "domestizierten" Umzugs differieren etwas: 1867 in Viersen und Dülken , 1886 in Düsseldorf , 1894 in Düsseldorf .

Häufig ist ein als St. Martin verkleideter Reiter dabei. So auch im Wien-Nussdorf, wo die Pfarre den Martinsumzug organisiert und die Heurigen gegen Spenden für ein Sozialprojekt ihre Weine anbieten. 2012 fanden sich Hunderte Kinder und Erwachsene mit teils künstlerisch gestalteten Laternen zum Rundgang durch das Weinhauerdorf ein. Der Pfarrer als Initiator verteilte Urkunden an die Kinder, die den "Ritterschlag" erhielten. Im 17. Bezirk veranstalten das "Hilfswerk" und die "Kaufleute vom Hernalser Spitz" seit 2009 einen Martins-Laternenumzug mit Reiter und Musikkapelle. Die Bezirkszeitung berichtete 2012 von 500 Teilnehmern.

Es ist etwas anderes, mit Laternen oder Lampions umzugehen oder ein an einen Ort gebundenes - möglichst weithin sichtbares - Feuer zu entzünden. Manfred Becker-Huberti erinnert die weltliche Prozession an das Lucernarium der altkirchlichen Liturgie. Die Lichtfeier wurde zunächst jeden Abend, dann am Vorabend hoher Feiertage abgehalten und ist heute in der Osternacht Brauch. Karl Meisen denkt an Umzüge der Griechen und Römer mit brennenden Kerzen und Fackeln, um "den festlichen Glanz einer Feierlichkeit zu erhöhen". Auf den Gräbern christlicher Märtyrer, bei Reliquienschreinen und Bildern brannten Lampen als Zeichen der Wertschätzung der Heiligen. Gregor von Tours, der Biograph des heiligen Martin, berichtet von der Drohung einiger Pilger an dessen Grab: "Wenn du nicht tust, um was wir dich bitten, so werden wir hier keine Lichter mehr anzünden, dir keine Ehre mehr erweisen". Meisen meint: "Hier wird also deutlich angesprochen, dass der Heilige durch das Anzünden von Lichtern besonders geehrt werden soll und daß man ihn dadurch geneigt und willfährig machen kann, die Bitten der Verehrenden zu gewähren." Der deutsche Volkskundler Dietz-Rüdiger Moser (1939-2010) stellt die Verbindung zu den Evangelien her, die bei den Gottesdiensten am Martinstag gelesen wurden. Vor der verbindlichen Perikopenordnung des Missale Romanum von 1570 war dies in den Zentren der Martinsverehrung das Gleichnis vom treuen und vom schlechten Knecht (Lk 12,35-40): "Legt euren Gürtel nicht ab und lasst eure Lampen brennen! Seid wie Menschen, die auf die Rückkehr ihres Herrn warten, der auf einer Hochzeit ist, und die ihm öffnen, sobald er kommt und anklopft. Selig die Knechte, die der Herr wach findet, wenn er kommt! Amen, ich sage euch: Er wird sich gürten, sie am Tisch Platz nehmen lassen und sie der Reihe nach bedienen. Und kommt er erst in der zweiten oder dritten Nachtwache und findet sie wach - selig sind sie. Bedenkt: Wenn der Herr des Hauses wüsste, in welcher Stunde der Dieb kommt, so würde er verhindern, dass man in sein Haus einbricht Haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet." Moser meinte, aus dem lateinischen Text ("Sint lumbi vestri praecincti et lucernae ardentes in manibus vestris") die Vorschrift zu erkennen, brennende Laternen in die Hände zu nehmen. Doch bliebe das Hauptthema die Erwartung des Herrn, das zentrale Thema der auf den Martinstag folgenden Adventzeit. Nach dem Konzil von Trient (1545-1563) wurde die Perikope vom Licht und vom Auge (Lk 11,33-36) verbindlich: "Niemand zündet ein Licht an und stellt es in einen versteckten Winkel oder stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf einen Leuchter, damit alle, die eintreten, es leuchten sehen. Dein Auge gibt dem Körper Licht. Wenn dein Auge gesund ist, dann wird auch dein ganzer Körper hell sein. Wenn es aber krank ist, dann wird dein Körper finster sein. Achte also darauf, dass in dir nicht Finsternis statt Licht ist. Wenn dein ganzer Körper von Licht erfüllt und nichts Finsteres in ihm ist, dann wird er so hell sein, wie wenn die Lampe dich mit ihrem Schein beleuchtet." Auch die Lucerna-Perikope hätte man wörtlich nehmen können. Das Licht als Zeichen der guten Absicht, der Nachfolge und des christlichen Lebenswandels ist aber allegorisch zu verstehen.

Erst vor kurzem hat sich der Regensburger Kulturwissenschaftler Daniel Drascek wieder mit diesen Theorien beschäftigt und 30 deutschsprachige Predigtsammlungen des 16. bis 19. Jahrhunderts bezüglich der Lichtmetaphorik von Martinsbräuchen untersucht. Dass in den Schriftlesungen dezidiert von brennenden Lampen, Leuchtern und Licht die Rede ist, "erinnert an jene Requisiten, die bei Lichterumzügen von zentraler Bedeutung sind". Doch: "so naheliegend es sein mag, es findet sich in den entsprechenden Predigten keine direkte Handlungsanweisung …" Alois Döring zweifelt an den Perikopen-Theorien - "Dies ist ein möglicher, aber letztlich wenig überzeugender Erklärungsversuch" -, die eine Kontinuität vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert postulieren.

Heische- und Hirtenbräuche

Heischen ist etwas anderes als betteln. Der Unterschied bestand im Recht, zu bestimmten Terminen von Haus zu Haus zu gehen und um bestimmte Gaben zu bitten. Wichtig war im Sinn des do ut des (Reziprozität) die Gegengabe. Sie bestand oft in Liedern, Sprüchen oder Segen. Wer nichts oder nach Meinung der Umziehenden zu wenig spendete, musste mit Rügen oder Sachbeschädigungen rechnen. Im 16. Jahrhundert gingen Schüler mit ihren Lehrern um die Martinsgans heischen. So schreibt Thomas Kirchmair 1555: "Den Schulmeistern tregts auch gewin / sie gehen mit jren schulern hin. / Mit hauffen in die Häuser dringen / Vnd um die ganß sant Martin singen." 1525 baten Kinder in Köln um übriggebliebenes Essen. Die Brüder Grimm berichten von Heischegängen der Kinder um Äpfel, Nüsse und Kuchen in Norddeutschland. Am Niederrhein nannte man dies "krippen", in Köln "schnörzen". Obwohl der geordnete Umzug solche Bräuche ersetzen sollte, tun es die Kinder trotzdem - aber eben nach dem Umzug.

Es gibt spezielles Brauchgebäck, wie Brezel, Kipferl oder Weckmann. Diese Figur aus Germteig hat eine kleine Keramikpfeife eingebacken, bei der es sich um einen missverstandenen Bischofsstab als Attribut handeln soll. Weckmänner verschenkt man im Rheinland vor allem am Nikolaustag. In Velke Mezirici / Groß Meseritsch (Tschechien) wurde 1990 ein Brauch wiederbelebt. Nach einer Legende besuchte der heilige Martin das Dorf. Er ritt auf seinem Schimmel ein und hatte nichts, womit er die Not der vom Krieg verarmten Bewohner lindern konnte. Er befahl seinem Pferd, kräftig aufzustampfen. Wunderbarerweise wurde aus jedem Abdruck des Hufes ein köstliches Mohnkipferl. Martin ritt mehrmals um das Dorf, damit die Kinder und Erwachsenen viele "Mohnhufe" einsammeln konnten. Heute stellen die Kinder in der Pfarre das Gebäck her.

Nicht nur Kinder gingen heischen, sondern auch arme Erwachsene und Angehörige bestimmter Berufsgruppen. Zu Martini waren es die Hirten, die am Ende der Weidesaison ihren Lohn einsammelten. Damit verband sich der Brauch der Martinsgerte. Die Grazer Volkskundlerin Elfriede Grabner hat 1968 ein Buch mit Verbreitungsgebieten und Sprüchen veröffentlicht. Die Weidezeit dauerte bis Michaeli, aber das Hüteramt bis Martini. Dann zogen die Halter von Haus zu Haus, sagten Sprüche und überreichten die mit bunten Bändern geschmückte Birken- oder Weidenzweige. Die Ruten wurden im Stall oder in der Stube aufbewahrt, um zu Georgi (23. April) das Vieh wieder damit auszutreiben. Manchmal wurde die Gerte am Dreikönigstag (6. Jänner) geweiht. Das Aufsagen des Spruchs und die Übergabe der Gerte - Wort und zeichenhafte Handlung - waren die Gegengabe für den Lohn. Dazu bekam die Hüter, wie im Fasching, zu Ostern oder am Kirtag, Wein und Weißbrot. Eine Umfrage für den Atlas zur burgenländischen Volkskunde (1952-1955) zeigte im Bezirk Oberpullendorf eine starke, im Bezirk Oberwart eine schwächere Verbreitung des Brauches, in den Bezirken Güssing und Jennersdorf gab es ihm demnach kaum. Grabner schloss die Lücke (1955) und konnte eine einheitliche Verbreitung bis in die Oststeiermark nachweisen. Allerdings gab es den Martinisegen schon damals nur noch in der Erinnerung alter Leute. Grabner zitierte Leopold Schmidt, der im Burgenland drei Gruppen von Sprüchen unterschied: Um Neusiedl von 1615 bis ins 19. Jahrhundert die selben Texte wie in Niederösterreich und Oberösterreich; im "Heanzengebiet" von Oberpullendorf Sprüche wie in Bayern, ohne dass eine räumliche Verbindung bestand; bei Jennersdorf ein eigener vierzeiliger Halterspruch. Schmidt nannte zwei Formen: die Abwehrformel - es solle kein Unheil geschehen - und den Vermehrungssegen - so viel (Glück) wie (Blätter auf dem Zweig).

In seiner Volkskunde von Niederösterreich beschreibt Schmidt das "reich belegte Martinsbrauchtum" der Viehhirten der Herrschaften und der Dörfer. In Asparn an der Zaya durfte der Hüter anno 1649 zu Martini, im Fasching und zu Ostern absammeln. 1695 ist in Patzmannsdorf der mit der Martinsgerte verbundene Segen bezeugt, der Tagesheilige spielt darin keine Rolle, vielmehr wird "der heilige Petrus mit dem Himmelsschlüssel" erwähnt, er "sperrt dem wilden Tier Schlund und Rüssel." Dieses Zeugnis verdankt man, wie so oft, einem Verbot. Der Patzmannsdorfer Pfarrer nahm Anstoß an dem "gotteslästerlichen" Brauch. Das kümmerte die Halter wenig, sie überreichten auch weiterhin ihre Gerten. In Wien - Mauer und Pötzleinsdorf - heischten sie mit Birkenruten - es konnten auch Zweige von Eiche, Weide oder Wacholder (Kranebitt) sein - um "etwas Geld und viel Wein". Dafür ging ein Bursche mit einem Krug ging mit. In der Sammlung der k. k. Verordnungen und Gesetze zur Zeit Maria Theresias heißt es bei Martini: "Die Ruthenausstellung von den Viehhirten wird verboten".
Die Österreichische Nationalbibliothek verwahrt mit dem "Wiener Hundesegen" eine Handschrift aus dem 10. Jahrhundert. In dem althochdeutschen Segensspruch wird der heilige Martin angerufen, um Hunde vor Wölfen zu schützen, was wohl besonders für Hirtenhunde wichtig war. Die Übersetzung lautet: "Christus wurde geboren, eher als Wolf oder Dieb. Da war der heilige Martin Hirte Christi. Der heilige Christ und der heilige Martin, der ehrwürdige, sie sorgen heute für die Hunde und Hündinnen, damit ihnen weder Wolf noch Wölfin zum Schaden sein können, wo immer sie auch laufen, im Wald oder auf dem Weg oder der Heide. Der heilige Christ und der heilige Martin, die mögen bewirken, dass wir heute alle hier gesund heimkommen."

Der wohltätige Schutzherr

Wallfahrten zum Grab des Heiligen in Tours (Frankreich) waren schon Anfang des 5. Jahrhunderts üblich. Besonders am 4. Juli, dem Tag seiner Bischofswahl (Sommerfest - Martinus aestivus) und dem Todestag am 11. November (Winterfest, Martinus hiemalis), kamen viele Pilger zur Ruhestätte des ersten Nicht-Märtyrers. Bald war Tours, nach Rom, der besuchteste Wallfahrtsort des Abendlandes. Die Reliquien standen im Ruf der Heilkraft. Am Grab angerührte Gegenstände, wie Mirakelbücher, Leinentücher, Wachs, Wasser, Öl, Brot und Wein sollten heilende Wirkung haben. Im Sinne des do ut des revanchierten sich die Bittsteller mit Geld- und Brotspenden und der ersten Ponderatio (Weihegeschenk) des Mittelalters. Um 550 spendete der arianische Sueven-König Chararich Gold im Gewicht seines Sohnes Theudemir, dessen Heilung er erbat. Theudemir wurde gesund - und die Sueven katholisch.

Viele Schutzpatronate hängen mit der Mantellegende zusammen. Da Martin nach dieser als Reiter seinen Mantel mit dem frierenden Bettler teilte, wurde er zum Schutzherren des Ritterstandes, der Rüstungsmacher, der Reisenden, der Gast- und Herbergswirte und ihrer Gäste. Bekleidungsgewerbe (Tuchmacher, Schneider etc.) erkoren ihn ebenso zum Patron wie die Bedürftigen, Vaganten und fahrenden Schüler. Der Bettler wurde in Varianten der Legende zum Aussätzigen, was Martin zum Leprosenpatron machte.

Es ist naheliegend, dass man ihm die Pferde anvertraute, wie dann auch andere Haustiere, das Vieh und die Feldfrüchte. Es gab Umritte und Pferdesegnungen. In Tirol erhielt das Stallvieh eine Maulgabe aus Fleisch und Weißbrot. Matthias Zender betont, dass die volkstümliche Martins-Verehrung als bäuerlicher Nothelfer gerade in solchen Gebieten bekannt ist, "in die die Verehrung des Heiligen erst sehr spät hineingetragen wurde." In Südkärnten wird Martin in neun Wallfahrtsorten bei Viehkrankheiten angerufen, im Vintschgau in vier. In Teilen von Tschechien, Böhmen, Kroatien und Slowenien übernahm ihn die Bevölkerung als Viehpatron aus den benachbarten Ostalpen. Bei Ljubljana (Slowenien) standen um 1900 in den Martinskirchen Holzpferdchen als Votivgaben auf dem Altar. In Deutschland, wo er als Schützer der Haustiere seit langem keine Rolle mehr spielt, war Martin vor Leonhard und Wendelin der ältere Bauernheilige. Nur in entlegenen Orten, wie im Tiroler Ötztal, wurde er nicht von diesen abgelöst.
Die legendäre Freigiebigkeit des Heiligen machte seinen Tag zum Heische- und Geschenktermin und Martin zum Gabenbringer. Im Mittelalter erhielt er Beifügungen wie "der Gute" oder "der Milde". Bischof Wolfger von Passau (um 1140-1218) nahm den Martinstag 1203 zum Anlass, um dem bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide (um 1170- um 1230) mit einem Pelzmantel zu beschenken. Ein viel jüngeres literarisches Zeugnis lieferte der steirische Dichter Peter Rosegger (1843-1918). Zu seinen Jugenderinnerungen aus der Waldheimat zählte die Martinsstatue auf dem barocken Hochaltar der Kirche von Ratten. Nachdem seine Mutter dem Buben die Mantelteilung eindringlich geschildert hatte, wollte er es dem Heiligen gleich tun. Er schnitt heimlich seine neue Sonntagsjoppe entzwei und bedeckte mit dem Teil einen Pilzesammler, der sich im Wald ausruhte. Der alte Mann verstand den Sinn der Gabe nicht und brachte sie den Eltern zurück. Der Vater wollte den Sohn prügeln, weil er die Jacke ruiniert hatte. Die Mutter, die den Grund kannte, konnte ihn abhalten und nähte die Teile zusammen. Mit Peter schenkte sie die Joppe einem armen Kind, denn "in jedem Armen steckt der liebe Gott".

In Deutschland (z. B. Mecklenburg 1862) und Belgien stand Martin als Kinderfreund neben dem Christkindlein und dem heiligen Nikolaus. Wie am Nikolaus-Vorabend bestand vor Martini ein Einkehrbrauch, bei dem St. Martin die Kinder beschenkte. Regional unterschiedlich blieb der Gabenbringer (wie Christkind oder Weihnachtsmann) unsichtbar. Aus Belgien ist im 19. Jahrhundert verschiedenes überliefert: In Flandern stellten sich die kleinen Kinder in einer Ecke des Zimmers auf, während die Eltern durch die Tür Äpfel, Nüsse, Lebkuchen und Süßigkeiten in die Stube warfen. Die Kinder bedankten sich bei St. Martin und versprachen, artig und fleißig zu sein. Wer nicht mehr an den Gabenbringer glaubte, erhielt keine Geschenke. In Antwerpen kam der verkleidete Bischof ins Haus, erkundigte sich nach dem Betragen und warf Äpfel, Nüsse, Obst und Kuchen sowie Ruten auf den Boden. In Ypern hängten die Kinder am Martinsabend bei Eltern und Paten einen mit Heu gefüllten Strumpf in den Kamin. Bei seinem nächtlichen Ritt über die Häuser sollte sich der Heilige das Heu für sein Pferd nehmen und den Strumpf mit Geschenken füllen. In Österreichisch-Schlesien kam er auf einem Schimmel und brachte hufeisenförmige "Martinshörndl" als Geschenk. Dies war auch in Böhmen, Sachsen und Schwaben Brauch. In Schwaben galt bei den Katholiken Nikolaus, bei den Evangelischen Martin als Gabenbringer.

Martin als Maskengestalt

1922 vergleicht Heinrich Hoops den Martinstag in Niedersachsen mit dem Fastnachtstag. Beim ersten Winterfest heischten Kinder mit Laternen um Äpfel und Nüsse. Außerdem gingen maskierte Burschen um. Der deutsche Germanist Erich Straßner hat sich in den 1960er Jahren mit Berchtengestalten in Ostfranken beschäftigt. Als ersten Auftrittstermin nennt er den 11.11., wenn die "Martinsberta" kam. In Mittelfranken ging "Märte mit der Gerte" um, der "Nussmärtel" schenkte Nüsse. Der "Pelzmärtel" ruft Erinnerungen an den österreichischen Krampus wach. "Pelzi" trug einen wilden Bart im geschwärzten Gesicht, hatte eine Kapuze und Stiefel. Ferner gehörten zu seiner Ausrüstung Kette, Rute und zwei Säcke. In einem hatte er Geschenke für die kontrollierten Kinder, mit dem anderen trug er die "Schlimmen" weg. Bis ins 16. Jahrhundert war der Martinstag ein Geschenktermin für Erwachsene, die Segenszweige (Gerten) erhielten, später nur noch für die Kinder. Als Termine des Umzugsbrauchs nennt der Autor neben dem 11.11. bzw. dessen Vorabend, den 30. November (Andreas), 6. Dezember (Nikolaus), 21. Dezember (alter Thomastag) oder 24. Dezember (Heiliger Abend).
1971 schrieb der Stuttgarter Volkskundler Wilhelm Kutter über Mittwintergestalten im Schwarzwald. Er wies auf die Ablöse des "Pelzmärtle" durch die Nikolaus-Bescherung hin. Um 1900 waren bei Tübingen "Schellenmärte" unterwegs. Die in Erbsenstroh, Stroh und Werg gehüllten Männer trugen Kuhglocken und Bockshörner. Noch 1970 beobachtete Kutter in Sprollenhaus-Bad Wildbad, einem Kurort im Tal der Enz, die Vermummung der Burschen. Am Nachmittag wurden den 19- und 20-Jährigen Leib, Arme, Beine und Füße mit Strohzöpfen oder Seilen umwickelt, Zipfelkappe, Flachsbart, Strohschwanz und Schellen angelegt. Dies dauerte rund 2 ½ Stunden. Zu jeder Gruppe gehörten drei Begleiter mit Ruten und fünf bis sieben Peitschenknaller. Sie besuchten Häuser mit Kindern, denen sie die Geschenke der Eltern übergaben und dafür Geld und Schnaps erhielten. Dieser wurde am Ende, gegen 22 Uhr, gemeinsam konsumiert.

Magisches Denken

Sah man Martini als Wendezeit an, so lagen Orakel und superstitiöse Vorstellungen nahe. Der evangelische Theologe Adolf Wuttke beobachtete Ende des 19. Jahrhunderts, wie heiratswilllige Thüringerinnen und Schlesierinnen mit Kreide Buchstaben an die Tür schrieben, um daraus auf den Namen eines Bräutigams zu schließen. Dies geschah zu Martini ebenso wie in der Andreasnacht, Thomasnacht oder zu Silvester. Als Lostag war Martini für den Liebeszauber geeignet. Ähnlich wie Barbarazweige, schnitten Paare je einen Obstzweig ab und wässerten sie ein, damit beide Zweige zu Weihnachten blühten.. Auch auf das Wetter wollte man Schlüsse ziehen: "Wenn auf Martini Nebel sind, wird der Winter gelind", ist es sonnig oder sind noch Blätter an den Bäumen, wird es ein strenger Winter. Besonders aus dem Brustbein der Martinigans erhoffte man Wetter-Prophezeihungen. War es von rötlicher Farbe, erwartete man einen strengen, vom weißen Knochen einen milden Winter. Ein schneeweißes Bein ließ auf einen schneereichen Winter hoffen.

Schließlich kann man nur wünschen, in der Martininacht etwas Schönes zu träumen. Nach altem Glauben der Ungarn bringt das Glück …