Die schlanke 125er#
(Herbstliche Ausfahrt mit einer Klassikerin)#
von Martin KruscheEin sonniger Herbsttag, so freundlich, als wollte sich die Jahreszeit auf Frühling umkleiden. Das lief sehr gut. Innerhalb der Stadt hatte ich auf Anhieb noch Sorge, daß der Bremsweg über die rote Ampel hinausreichen könnte, doch Ewald Ulrich wußte die Bremsbacken gut belegt und zerstreute meine Bedenken.
Wie viele Jahre hatte ich es gemieden, mich erneut auf ein Motorrad zu setzen? Nicht aus Furcht, ganz im Gegenteil. Wie groß war einst die Geste gewesen, dieser Leidenschaft abzuschwören! Naja. Männer!
Und dann so ein klassischer Zweitakter mit dem markanten Möppeln der Doppelkolben-Motoren aus dem Grazer Puchwerk. Ein Klang, den man nicht verwechseln kann.
Ulrich war seinerzeit mit dieser 125er zwischen dem südburgenländischen Kalch und dem steirischen Graz gependelt, um sein Technikstudium zu absolvieren. Der Großvater hatte ihm das Motorrad zu seinem 18. Geburtstag geschenkt. Es ist ab Werk rot lackiert gewesen, nun aber im dezenten Schwarz; zuzüglich der Sedimente von Jahrzehnten.
Zwei Vergaser über den zwei Tüten. Das sorgt für etwas erhöhte Durchzugskraft und Geräuschkulisse. Die wenigstens Leute wissen, daß Motoren nicht nur über die Auspufftöpfe erklingen, sondern auch markante Ansauggeräusche haben.
Puch 125 SVS, das bedeutet Schwingarm, Vollnabenbremse, Sport. Brachiale drei PS mehr als die Standard-SV. (Für die Kürzelwirtschaft von Puch ist leider noch kein Handbuch verfügbar.)
Mit solchen Maschinchen wurde im Jahr 1951 die L-Typenreihe eingeführt. Man befuhr damit im Puchwerk konstruktives Neuland. Wir befuhren rund ein halbes Jahrhundert danach jenen Hügel, über dem in der Gemeinde Ludersdorf-Wilfersdorf das Schloß Freiberg thront.
Es war Künstler Winfried Lehman zu besuchen. Mit ihm sind wir in das Projekt „Die Quest“ verstrickt. Dabei ist allerhand Aspekten unserer Biographien nachzugehen. „Die Quest“ entfaltet sich als eine Mischung aus Erzählungen und Fahrten, um vier unterschiedliche Lebenskonzepte zu untersuchen, also auch das von Kameramann Helmut Oberbichler, der dazugehört. Siehe dazu hier im Austria-Forum „Die Quest: Wir und die Welt“ (Kollektive Wissens- und Kulturarbeit)!
Lehmann verbrachte seine Kindheit in einer Zeit, da noch die ganze Familie Geld zusammenlegen mußte, um einen Wertgegenstand wie ein Fahrrad anzuschaffen. Seine kontrastreiche Motorisierung erlebte er dann als Auswanderer in Afrika. Ulrich stammt aus einen handwerklichen Betrieb, wo die Motorisierung in der Zweiten Republik selbstredend war.
Lehmann bestaunte „Die Puch“ aus der Nähe, während ich mir im Kopf die Familiengeschichte dieses Motorrades zurechtstellte. Es gibt ab dem Ende des Großen Krieges eine durchgängige Geschichte bis zum Schlußpunkt der Motorradproduktion in Graz. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte der abenteuerliche Börsenspekulant Camillo Castiglioni begonnen, die Reste eines derangierten Konzernes zu verwerten, also den Laden zu filetieren.
Dazu gehörte auch das Vorhaben, die Grazer Anlagen dicht zu machen. So hätte das Puchwerk um ein Haar geendet. Ingenieur Giovanni Marcellino sollte diesen Akt für Castiglioni exekutieren. Damals stand die Volksmotorisierung am Horizont, ließ sich schließlich bis nach dem Zweiten Weltkrieg Zeit. Dieser gesamte Verlauf ist in 125ern aus Graz darstellbar.
Marcellino empfahl seinem Boss, die Grazer Fabrik zu erhalten. Fahrräder, die mit Hilfsmotoren aufgerüstet wurden, hatten nach seiner Ansicht keine Zukunft, weil die zarten Konstruktionen der Motorisierung längerfristig nicht gewachsen seien.
Marcellino löste dieses Problem mit der filigran wirkenden Puch 125 LM (LeichtMotorrad) als einem robusten „Volksmotorrad“, angetrieben von einem Zweitakter-Doppelkolbenmotor. (Das Motorenkonzept zur besseren Steuerung des Verbrennungsvorganges geht auf Alberto Garelli zurück.)
Die schlanke „Zeppelin-Puch“, so benannt nach der markanten Tankform, wurde 1923 bis 1939 gebaut und eben erst von der Österreichischen Post mit einer Sondermarke gewürdigt.
In Graz nahm man sich während des Zweiten Weltkrieges vor, der deutschen DKW RT 125 („ReichsTyp“) ein Konkurrenz-Modell zu bauen. Die nächste 125er nach der LM kam, als sich Österreich dem Dritten Reich angeschlossen hatte, wurde von 1940 bis 1953 hergestellt. Mit dem Hubraum war im Motorsport zu punkten. Für den Straßenverkehr bestand eine eigene Führerscheinklasse.
Die Kriegsversion kann man in Graugrün sehen, die Nachkriegsvariante in Schwarz. Im eleganten und sehr ausgewogenen Rohrrahmen wurden schließlich auch die aus der Sportwelt abgeleiteten Motoren mit zwei Vergasern angeboten. In dieser Modellreihe findet ich übrigens der Übergang von der Parallelogrammgabel zur Teleskopgabel.
Die große Schwester der 125er ist heute bei Klassikertreffen auch wieder öfter zu sehen und wurde damals zum vorerst letzten Puch-Motorrad mit Rohrrahmen. Die Puch 250 TF, als „Steirische Norton“ beworben, von 1948 bis 1954 gebaut, markierte eine Stelle, hinter der ein Wendepunkt lag.
Von 1951 bis 1970 dominierte eine technische Innovation, welche von den Ingenieuren Erwin Musger und Alfred Oswald eingeführt wurde. Der preiswerte und verwindungssteife Schalenrahmen, aus zwei Blechpreßformteilen zusammengesetzt. Eine technische Lösung, die aus dem Flugzeugbau kam.
Damit bin ich bei der 125er angekommen, mit der wir die herbstliche Ausfahrt absolvierten. Ihr Basismodell, die Puch 125 SL, wurde 1950 auf der Wiener Frühjahrsmesse vorgestellt. SL steht für Sport, Luxus. (Damals genügte oft schon ein wenig Chromzierrat, um das Luxus-L anzubringen.)
Es heißt, die Rahmenkonstruktion würde den Antriebsblock auch ohne die Strebe vom Lenkkopf zum Motor stabil halten, ohne wegen der Motorvibrationen Lenkkopf-Risse zu kassieren. Dieses Rohr sei bloß ein „Blinddarm“, eine Konzession an der Publikumsgeschmack.
Die L-Typenreihe bestimmte den Vorabend des Abgesanges der Grazer Motorradproduktion. Halbschalenrahmen und Doppelkolben-Motor liefen schließlich aus. Von 1966 bis 1971 produzierte Puch eine letzte 125er. Die Puch M 125 hatte wieder einen Rohrrahmen, außerdem einen Zweitakter-Motor mit nur einem Kolben. Sie bot mit ihrem Fahrwerk auch die Basis der M50-Serie in der Moped-Abteilung (50 ccm). Das war für meine Generation sehr attraktiv, weil wir schon ohne Führerschein einen Auftritt haben konnten, der deutlich nach „richtigem Motorrad“ aussah.
In der ersten Hälfte der 1970er Jahre fuhren uns auf den Straßen übrigens noch unzählige Puch Motorräder mit Halbschalenrahmen um die Ohren. Sie erschienen uns allerdings reichlich antiquiert, waren aber billig zu haben. Doch wir begehrten schon andere Konstruktionen.
Immerhin hatte Honda 1968 der Motorradwelt mit der CB 750 einen Schock verpaßt und Kawasaki lieferte einige Witwenmacherinnen. Italienische Monster, etwa von Laverda, Moto Guzzi oder Ducati, waren für uns Burschen unerschwinglich, verstellten aber glamourös den Blick auf die alten „Puch-Mopperln“.
Ich hatte meine notorische Geldknappheit kompensiert, indem ich mich erst einmal Motorrädern zuwandte, die so alt waren, wie ich selbst; allerdings aus dem Nachbarland Deutschland. (Horex Regina und NSU Konsul)
In den 1970ern war Motorradfahren noch nicht in einen Boom gepackt und populär. Wir kannten auch keine „Biker“, denn wir sind „Mopperl gefahren“, wahlweise einen Bock oder ein Eisen, aber kein Bike. Standesdünkel blieben unausweichlich. Leute, die bloß ausfuhren, wenn Sonnenschein garantiert war, wurden verachtet.
Es war die Leidenschaft einer Minorität, welche meist mitleidige Blicke einfing, gelegentlich Unmut, wenn etwa das Teil zu laut war. Unsere Überholmanöver wurden generell als Wahnsinnstaten bewertet, da das Bodenpersonal in den Bürgerkäfigen Beschleunigungsvermögen und Tempo der Motorräder häufig unterschätzte, was in unseren Reihen so manches Leben kostete.
Vor dem Hintergrund solcher Geschichten ist die 125er von Ewald Ulrich der unaufgeregt Ausdruck preiswerter Mobilität in beeindruckender Dauer. Sie wurde in ihrem patinierten Zustand erhalten und bloß technisch stabil gemacht.
Zeitzeugenschaft einer versunkenen Ära, gestützt auf robuste Technik, die nun schon ein halbes Jahrhundert standhält, ohne dabei von einem Experten kostenintensiv gepflegt werden zu müssen.
In der Geschichte des Puchwerks steht die Halbschalen-125er auf dem Wendepunkt zu einer technischen Innovation in der Geschichte der Grazer „Volksmotorräder“, die dann mit der technisch völlig anders konzipierten M 125 ihr Ende fand.
Die Puch-Leute bemühten sich zwar, nächste Entwicklungsschritte zu schaffen, doch die Massenproduktion und Vermarktung von Massengüter ist ein brutales Geschäft. In der zunehmenden Globalisierung der Märkte mußte diese Geschichte enden, war nicht mehr ökonomisch umsetzbar.
Die herbstliche Ausfahrt mit Ulrich und seiner 125er rührte übrigens an einen Moment, in dem ich selbst fast mein Ende gefunden hätte. Da in Österreich Helmpflicht herrscht und ich keinen Ärger bekommen wollte, griff ich nach einem verstaubten Erinnerungsstück, das für diese Erinnerungen steht.
Den neongelben Helm von Levior trug ich nun seit dem Mai 1992 das erste Mal wieder auf dem Kopf. Er rettete in jenen Tagen mein Leben, als mich ein LKW-Fahrer übersehen und auf meiner 750er mit seinem Hängerzug flach gemacht hatte. Das wurde sehr viel Arbeit für ein Chirurgen-Team. Ich bin seither nicht mehr im Originalzustand.
Aus einigem Abstand, nachdem sich der Schrecken bannen ließ, was fast ein Jahrzehnt beanspruchte, schien mir klar, daß diese triviale Fahrt in die Unterwelt ein Äquivalent zu den verlorenen Initiationsriten hergab. Ritueller Tod, Abstieg in die Unterwelt, geläuterte Rückkehr. Das volle Paket.
Sie ahnen schon, das sind Ikarier-Aspekte; siehe dazu: „Wir sind Ikarier“! Wir sind demnach andauernd in kulturelle Konstruktionen verstrickt, die sich anregend deuten und darstellen lassen…