Herr Turner und die Temeraire#
(Ein Beitrag zum Projekt Mensch und Maschine) von Martin KruscheEin unscheinbarer Gentleman mit eigentümlichen Manieren, von einem überragenden Talent umgetrieben, sieht gebannt auf die eher belanglose Szene und beginnt seine Utensilien zu ordnen. Das Schiff im Vordergrund ist ohne Verdeck und macht daher einen etwas geduckten Eindruck. Die mächtigen Schaufelräder zu beiden Seiten lassen den Schlepper wie einen hustenden Hamster aussehen. Dieser kleine Seitenrad-Dampfer hat ein altes Kriegsschiff im Schlepptau, das abgewrackt werden soll.
Um den abgetakelten Rahsegler noch zu bewegen, bedarf es des Dampfschiffes, das den nötigen Wind aus seinem Kessel bezieht. Joseph Mallord William Turner hält diese Situation fest und schafft so ein Bild, das heute als eines der bedeutendsten Gemälde Großbritanniens gilt.
Es zeigt die letzte Fahrt jenes Linienschiffes, über das ein Lied erzählt: „Now the sunset Breezes shiver / And she's fading down the river / But in England's song for ever / She's the Fighting Temeraire.“ (Henry John Newbolt)
Das Gemälde stammt aus dem Jahr 1839. Herr Turner zeigt nicht nur metaphorisch, wie mit dem Dampfer die Erste Industrielle Revolution heraufgekommen ist, er gibt uns auch ein anschauliches Beispiel, wie sich in manchen Momenten Weltgeschichte und Regionalgeschichte berühren. (Ein Thema, das uns für das steirische Vorhaben „Mensch und Maschine“ bewegt.)
Die Temeraire hatte ihren historischen Moment in der Seeschlacht von Trafalgar, welche 1805 stattfand. Diese Schlacht war eine Reaktion Napoleons auf die britische Elbblockade von 1803 bis 1805. Dabei blieb der Korse vor dem spanischen Kap Trafalgar der Geschlagene und Lord Nelson triumphierte sterbend.
Diese Niederlage beantwortete Napoleon mit der Kontinentalsperre, einer Blockade Englands, die bis 1811 dauerte. Dieser Wirtschaftskrieg hatte fraglos Auswirkungen auf jene außergewöhnlichen technischen Entwicklungen, die England für eine Weile zur führenden Industriemacht der Welt machten.
So also der Zusammenhang von Weltgeschichte und Regionalgeschichte bei diesem Motiv, da ein unbekanntes Dampfschiff den bedeutenden Segler Temeraire zu seinem letzten Liegeplatz (Berth) schleppt, wie der vollständige Titel des Gemäldes verrät: „The Fighting Temeraire tugged to her last Berth to be broken up, 1838“.
Manche Ansichten besagen, was der Maler Turner in etlichen seiner Werke an besonderem Licht, an eigentümlichem Himmel zeigt, hänge mit dem „Jahr ohne Sommer“ zusammen. Das hat sich im Jahr 1816 ereignet. Es gab Kälteeinbrüche und Mißernten in Amerika wie in vielen Teilen Europas. Die Folge waren verheerende Hungersnöte und schließlich auch ein weitreichendes Pferdesterben, da diese Tiere in unmittelbarer Nahrungskonkurrenz zu den Menschen standen.
Anlaß für diese Ereignisse war der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815. Seine Eruption bewirkte eine Klimaveränderung, einen „vulkanischen Winter“. Das erwähnte Pferdesterben ist deshalb so bedeutungsvoll, weil das Pferd in Europa üblicherweise nicht als Nahrungsreserve gehalten wurde, sondern als äußerst effizienter „Hafermotor“.
Die Pferdekraft verlor erst gegen Ende der letzten zweihundert Jahre an Bedeutung gegenüber der Dampfkraft, schließlich gegenüber Elektro- und Verbrennungsmotoren. Der Berg Tambora und die Ausbruchs-Folgen werden in der Geschichtsschreibung als Motive gedeutet, technische Lösungen zu ersinnen oder zu verbessern, mit denen sich die erlebten Nöte mildern und Pferde allenfalls ersetzen ließen.
Heuer, 2017, wird daran erinnert, daß der Forstbeamte Karl Drais im Jahr 1817 sein Laufrad vorgeführt hat, jenes Strampelgerät, dem die sogenannten „Hobby Horses“ folgten; nicht mehr Steckenpferde, sondern zweirädrige Gefährte. Es heißt, Herr von Drais habe sich angesichts der historischen Erfahrungen mit dem Pferdesterben Gedanken gemacht, welche pferdelosen Lösungen möglich seien.
William Turner erlebte die Entfaltung der Ersten Industriellen Revolution und schuf 1844 ein weiteres, sehr bezeichnendes Ölbild. Das behandelt Regen, Dampf und Geschwindigkeit auf spezielle Art: „Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway“, so der Titel des Bildes. Wenige Jahre davor, 1829, hatte in England jenes Rainhill-Rennen stattgefunden, in dem die Lokomotive Rocket von Robert Stephenson überlegen gewann und eine neue Ära des Transportwesens einleitete.
Unter den ersten Automobilen unserer Geschichte waren Steamer, also Autos mit Dampftriebwerken, sehr exponiert. Die kommende Fahrzeugtechnik bezog ferner etliche wichtige Elemente aus der Fahrradproduktion; sowohl bezüglich Bearbeitung als auch hinsichtlich technischer Lösungen.
So läßt sich zusammenfassen, daß wir erst einmal mehr als fünftausend Jahre Geschwindigkeitserfahrungen mit „Hafermotoren“ gemacht haben, also mit Pferden. Was ihnen die Ochsen an Zugkraft voraus hatten, glichen die Pferde mit Tempo aus.
Da sich Wind und Wasserkraft auf Landfahrzeuge nicht brauchbar anwenden lassen, drehten findige Menschen die Geschichte um. Sie packten das Wasser in die Fahrzeuge, legten Feuer daran und bekamen so gewissermaßen den Wind, genauer: einen nassen Orkan, der über geschickte mechanische Lösungen für Vortrieb sorgen kann.
Das 19. Jahrhundert war eine Blütezeit der Pferdekraft, aber auch die Ära des Siegeszuges von Dampfmaschinen. Mit dem Zweiten Marcus-Wagen haben wir dann spätestens ab 1888 ein erstes modernes Automobil, einen „Pferdelosen Wagen“, der auf einer eigenständigen Konstruktion des Fahrwerkes beruht, angetrieben von einem Benziner mit Zündung und Vergaser.
Als das Napoleonische Frankreich am Ende anlangt, ist England quer durch dieses 19. Jahrhundert die vorherrschende Macht Europas, deren Industrie den Lauf der Welt verändert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ziehen allerdings erst Amerika und dann Deutschland mit industriellen Leistungen an England vorbei.
Das sind nur zwei Aspekte, die sich für den Beginn und für das Ende des Großen Krieges als bedeutsam erweisen, überdies auch für unsere Mobilitätsgeschichte. Die Massenmotorisierung der Kontinente ergibt dann eine andere Geschichte…
+) Post Scriptum: Was hat es mit dem Projekt „Mensch und Maschine“ auf sich? Lesen Sie dazu: „Möglichkeitsraum und Maschinentraum“!