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Die zerstörten Synagogen Wiens - virtuelle Stadtspaziergänge#

von

Isabella Marboe

Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift DAVID /Juli 2010 41


Bob Martens, Herbert Peter
Wien: Mandelbaum Verlag 2009. 256 Seiten, Euro 19,90.-ISBN: 978385476-313-0

Synagogen sind ein besonderer Bautyp, der in Wien eine lange Tradition hatte, die bis ins Mittelalter zurückreichte. In seinem einführenden Essay gibt Pierre Genee einen kurzen Überblick über die Wechsel- und leidvolle Geschichte der Ansiedlung jüdischer Gemeinden. Die älteste urkundliche Erwähnung von vier „hofstetten um eine judenschul" datiert aus dem Jahr 1204, Ende des 14. Jahrhunderts umfasste die erste Wiener Judenstadt etwa 70 Häuser und eine Synagoge am Schulhof. Diese Judenstadt wurde 1420 gewaltsam aufgelöst. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts gestattete der Kaiser einer Gruppe „Hofbefreiter Juden", sich wieder anzusiedeln. 1624 wurde ihnen am Unteren Werd ein Wohnbezirk zugewiesen, wo bald die „Alte Synagoge" entstand und private Betstuben eingerichtet wurden. In den 50-er Jahren baute man in der Leopoldstadt die „Neue Synagoge". Kurz darauf, 1670, wurde auch die zweite Judenstadt aufgelassen, man vertrieb ihre Bewohnerinnen und wandelte die „Neue Synagoge" in eine Kirche um, die vermutlich der zweiten Türkenbelagerung zum Opfer fiel.

Als es im 17. und 18. Jahrhundert einige Hofjuden zu Ansehen brachten, wurde ihnen 1823 gestattet, die gemeindeeigene Synagoge in der Seitenstättengasse zu erbauen, die vom prominenten Architekten Joseph Kornhäusel entworfen und 1826 vollendet wurde. Der überkuppelte Ovalbau mit dem eingestellten Säulenkranz der Empore ist ein Prachtstück des Klassizismus. Am 21. Dezember 1867 erliess Kaiser Franz Joseph I. das Staatsgrundgesetz, das erstmals Juden anderen Staatsbürgern rechtlich gleichstellte und ihnen Religionsfreiheit gewährte. Sie durften sich nach Belieben ansiedeln, Grundbesitz erwerben und jeden Beruf ausüben. Juden aus allen Teilen der Donaumonarchie zogen in die Reichs- und Residenzhauptstadt, ihre unterschiedlichen Herkunftskulturen und Traditionen Hessen eine Gemeinde von einzigartiger Vielfalt entstehen. Das zeigte sich auch in den etwa 100 über ganz Wien verteilten Andachtsstätten. 23 davon waren Synagogen, die als eigenständige Sakralbauten in Erscheinung traten.

Ann Katrin Bäumler weist in einem Essay auf die Bedeutung, baulichen und liturgischen Wesensmerkmale der Synagoge hin, die nach Salomon Korn ein Haus der Versammlung (Bet-ha-knesset), des Lernens (Schul) und des Gebets (Proseuche bzw. Bet Tfila) ist. Nach Maimonides ist unter einer Synagoge jeder Raum zu verstehen, in dem sich mindestens zehn im rituellen Sinn erwachsene jüdische Männer, der sogenannte Minjan, regelmässig und zu festgesetzten Zeiten zum Gebet versammeln.

Dafür boten Wiens Synagogen mehr als genug Raum: Sie wurden von den Stars ihrer Zeit – wie Joseph Kornhäusel und Ludwig von Förster entworfen oder von jüdischen Architekten – wie Wilhelm Stiassny, einem Schüler von Friedrich von Schmidt, Max Fleischer und Jakob Gärtner – geplant, die sich auf diese Bauaufgabe spezialisiert und ein eigenes Stilrepertoire entwickelt hatten, um sie formvollendet umzusetzen.

Sieben Synagogen der Israelitischen Kultusgemeinde und sechzehn Vereinssynagogen gab es in Wien. Eine einzige Nacht, die sogenannte Reichskristallnacht am 9. November 1938 genügte, um sie fast alle zu zerstören. Einzig Joseph Kornhäusels Synagoge entging der Vernichtung.

Sechzig Jahre später, 1998, wurde mit der virtuellen Rekonstruktion der ersten Synagoge in der Wiener Neudeggergasse begonnen. Ein zeitgenössisches Aquarell von Max Fleischer verdeutlicht, wie sehr die Synagogen als Motiv im Stadtbild verankert waren, von dieser Synagoge ist sogar eine zeitgenössische Aufnahme während einer Zeremonie erhalten. Die 3D-Animationen am Computer geben erstmals in exakt berechneten Perspektiven den Raumeindruck von innen wieder und stellen auch den Baukörper in seiner Gesamtkubatur im städtebaulichen Kontext dar.

21 zerstörte Synagogen wurden rekonstruiert und in diesem Buch systematisch nach demselben Prinzip vorgestellt. Eingangs ist das Gebäude - ob bündig in die Strassenflucht gesetzt, durch einen Vorplatz betont, in einem Hinterhof, auf einem Eckgrundstück oder in irgendeiner Form freigestellt - in einem Lageplan dargestellt und wird so im städtebaulichen Zusammenhang begreifbar. Danach geben historische Dokumente - Aquarelle, Fotografien, Ansichten, Grundrisse oder Schnitte der originalen Einreichpläne - Aufschluss über die Quellen, die als Basis zur Rekonstruktion dienten. Sie vermitteln sehr viel Atmosphäre und bilden so eine sehr wertvolle Ergänzung zur Computervisualisierung. Als Eckdaten sind zu jeder Synagoge die Adresse, die jüdische Gemeinde, die sie benutzte, ihr Name, das Einweihungsdatum, der Architekt, das Fassungsvermögen und der Stil angegeben, was einen umfassenden Eindruck vermittelt und die einzelnen Gebäude vergleichbar macht.

An einigen Synagogen wirkten namhafte Rabbiner, sehr aufschlussreich sind die wechselnden Besitzverhältnisse von der Bauzeit bis in die Gegenwart. Besonders faszinierend ist die Gegenüberstellung von Fotografien der heutigen Situation mit derselben Aufnahme, in die eine visualisierte Synagoge hineinmontiert wurde. Der Vergleich dieser Bilder veranschaulicht den gravierenden baukulturellen Verlust im Stadtbild ganz unmittelbar. Er wiegt umso schwerer, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Menschen sich an diesen Versammlungsorten trafen.

So hatte der Grosse Leopoldstädter Tempel der Israelitischen Kultusgemeinde, der von Ludwig von Förster geplant, 1854-58 gebaut und 1898 von Wilhelm Stiassny renoviert wurde, ein Fassungsvermögen von 2.240 Sitz- und 1.500 Stehplätzen. Der reich mit maurischen, arabischen und assyrischen Stilelementen verzierte, dreischiffige Bau mit den auffallenden Gesimsen und zierlichen Ecktürmen wurde sogar von Rudolf von Alt gemalt. Deutlich zeigt die Visualisierung die zweifarbig verkleidete Fassade und macht die Konstruktion im Innenraum klar ablesbar. Erschütternd ist das Bild der Zerstörung, das nach der Reichskristallnacht 1938 aufgenommen wurde. Heute verweisen weisse Säulen auf der Strasse als Reminiszenz an die minarettartigen Türme auf die Geschichte dieses Ortes. Mit diesem Führer in der Hand kann man sich erst wirklich vorstellen, wofür sie stehen.

Bei einigen Synagogen vermitteln die zeitgenössischen Fotografien und Aquarelle einen lebendigeren Raumeindruck als die Renderings. Bei anderen, wo nur wenige Quellen vorhanden sind, vermag die Visualisierung einen vergessenen Ort wieder ins Bewusstsein zu rücken und gleichsam neu zu schaffen. Die Synagoge in der Eitelbergergasse in Hietzing ist ein Sonderfall: für ihren Bau wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, an dem sich auch Richard Neutra beteiligte. Das erste, 1912 auf einem Grundstück in der Onno-Klopp-Gasse ausgeschriebene Verfahren konnte Hugo Gorge für sich entscheiden. Dann aber verlegte man den Bauplatz auf das Eckgrundstück Eitelbergergasse - Neue-Welt-Gasse und schrieb 1924 den Wettbewerb zum zweiten Mal aus.

Der siegreiche Entwurf von Arthur Grünberger (mit Adolf Jelletz) wurde gebaut. Die feine Plastizität des weissen, klassisch modern anmutenden, tempelartigen Quaders mit den von Davidsternen inspirierten Öffnungen in der Wand wird in der computergestützten Darstellung sehr realistisch veranschaulicht. Auch bei der „funktionalistischen" Synagoge von Architekt Franz Katlein (mit Carl Fleischer), die in die ersten beiden Geschosse eines Wohnbaus integriert wurde, funktioniert die Visualisierung wunderbar.

Fazit: Dieser virtuelle Stadtführer sollte in keinem kultivierten Haushalt fehlen. Er bietet einen Überblick über den Bautyp Synagoge, seine Architekten und macht den kulturellen Reichtum eines ausgelöschten Teils von Wien wieder bewusst und jüdische Geschichte gegenwärtig. Mit ihm in der Hand lassen sich in Gedanken sogar Themenspaziergänge zu bestimmten Typen oder den Synagogen von Jakob Gärtner oder Max Fleischer unternehmen.

von Isabella Marboe
Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift DAVID /Juli 2010 41

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