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Das Konzentrationslager Mauthausen 1938–1945#

Die Neuaufstellung der Ausstellung unter Barbara Glück#

DDr. Barbara Glück ist seit 2005 Leiterin der für die KZ-Gedenkstätte Mauthausen zuständigen Abteilung im Bundesministerium für Inneres; Mitherausgeberin des Jahresberichts der KZ-Gedenkstätte Mauthausen; seit 2008 Mitglied der österreichischen Delegation in der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research. Gesamtleitung der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.

Die Ausstellung „Das Konzentrationslager Mauthausen 1938–1945“ erzählt die Geschichte des KZ Mauthausen und seiner Außenlager von der Ankunft der ersten Häftlinge am 8. August 1938 bis zur Befreiung des Lagers durch die US-Armee am 5. Mai 1945.

Untergebracht ist sie in einem historischen Lagergebäude, dem ehemaligen „Krankenrevier“, das im Sommer 1944 teilweise fertiggestellt und als Häftlingskrankenbau bezogen wurde. In den 1960er-Jahren erstmals als Museum adaptiert, wurde es 2010/11 erneut instand gesetzt. Die ursprüngliche bauliche Struktur wurde weitgehend erhalten, worauf Ausstellungskonzeption und -architektur Bezug nehmen. In der Nachkriegszeit vorgenommene Eingriffe in die historische Bausubstanz wurden durch Markierungen sichtbar gemacht.

Die Ausstellung erzählt die Geschichte des KZ Mauthausen/Gusen in vier Zeitabschnitten und auf drei thematischen Ebenen. Der Flur bietet eine historische Rahmenerzählung, die Aufstieg und Entwicklung des Nationalsozialismus in den Blick nimmt. Links des Flurs werden die wichtigsten Ereignisse und Entwicklungsstufen in der Geschichte des Lagers von 1938 bis 1945 dargestellt, rechts die Erfahrungen der Häftlinge und ihr täglicher Kampf ums Überleben. Der Prolog/Epilog erzählt von den Nachwirkungen des KZ Mauthausen in der österreichischen und europäischen Nachkriegsgeschichte.

Mehr als 100 Originalobjekte sollen die Geschichte des Lagers näher bringen. Zudem kommen in ca. 30 Video- und Audio-Interviews Überlebende des Lagers ebenso zu Wort wie Menschen, die in der unmittelbaren Umgebung des KZ wohnten. Vier grafische Animationen zeigen wesentliche Entwicklungen, vom Ausbau des Lagers über die zunehmende Zahl der Deportierten und die Errichtung der Außenlager bis hin zu den Evakuierungstransporten und Todesmärschen gegen Kriegsende.

Neuer Ausstellungsbereich
Ausstellungsbereich - Foto: BM.I/Stephan Matyus
Neuer Ausstellungsbereich
Reviergebäude - Foto: BM.I/Stephan Matyus

Prolog/Epilog#

Der Prolog/Epilog setzt in der österreichischen und europäischen Nachkriegsgeschichte an. Er erzählt vom Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus innerhalb der ehemaligen TäterInnengesellschaft, aber auch von den Nachwirkungen auf die Opfer. Einerseits ist dies eine Geschichte von Kontinuitäten und der halbherzigen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Andererseits werden die Zerstörung sozialer Strukturen und die Unmöglichkeit, an ein „Leben davor“ anzuschließen, thematisiert.

1938–1939: Die Errichtung des Konzentrationslagers Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann die Verfolgung politischer Gegner, sozialer Randgruppen und der jüdischen Bevölkerung.

Nach dem „Anschluss“ Österreichs wurde Mauthausen als Standort für ein Konzentrationslager gewählt. Die ersten Häftlinge kamen am 8. August 1938 aus dem KZ Dachau.Sie wurden ihres Namens beraubt und zur Nummer gemacht. Ihr Alltag im KZ war von Mangel, Gewalt und Tod geprägt.

Spurensuche
Spurensuche BM.I/Stephan Matyus
1940–1942: Internationalisierung und Massenmord Der Zweite Weltkrieg und die Besetzung weiter Teile Europas durch die Wehrmacht beeinflussten die weitere Entwicklung des KZ Mauthausen.

Tausende Menschen wurden aus den besetzten Ländern nach Mauthausen und Gusen deportiert. Die SS begann mit dem systematischen Massenmord an bestimmten Häftlingsgruppen. Während manche KZ-Häftlinge in der Lagerhierarchie aufstiegen, blieben andere isoliert. Die Arbeit in den Steinbrüchen kostete viele das Leben.

1943–1944: Rüstungsindustrie und Außenlager Angesichts des zunehmenden Arbeitskräftemangels erhielt die Zwangsarbeit zentrale Bedeutung für die deutsche Kriegswirtschaft.

Für den Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstungsindustrie wurden zahlreiche Außenlager gegründet. Das KZ Mauthausen entwickelte sich zu einem Lagersystem.

Für manche Häftlinge besserten sich die Lebensbedingungen, während kranke und arbeitsunfähige Häftlinge ermordet oder dem Sterben überlassen wurden.

1945: Überfüllung, Massensterben und Befreiung Das Vorrücken der alliierten Armeen und der Widerstand in ganz Europa brachten die nationalsozialistische Herrschaft zu einem Ende.

In den Monaten vor Kriegsende wurden tausende Menschen aus aufgelösten Lagern nach Mauthausen getrieben, was zu Überfüllung und Massensterben führte.

Die nahende Befreiung gab vielen Häftlingen neue Hoffnung. Zugleich herrschten Ungewissheit und die Angst, von der SS getötet zu werden.

Der Tatort Mauthausen – Eine Spurensuche#

Diese Ausstellung nähert sich dem Thema des Massenmords im KZ Mauthausen/Gusen mit den Mitteln der Spurensuche und Beweissicherung. Im Zentrum steht zum einen der Ort als „Tatort“, zum anderen die Frage nach den konkreten Spuren, Quellen und Beweisen, auf denen unser heutiges Wissen davon beruht. Die Ausstellung ist jenen Räumlichkeiten vorgelagert, in denen unzählige Häftlinge des Konzentrationslagers getötet und ihre Leichen beseitigt wurden. Hier befanden sich die Gaskammer und andere Hinrichtungsstätten sowie die Krematorien.

1. Alltägliche Gewalt Spontane Gewaltexzesse waren Teil des Lageralltags. Vielfach wandte sich die SS damit gezielt gegen Gruppen von Häftlingen, derer sie sich entledigen wollte. Unser heutiges Wissen über diese Tötungen beruht vor allem auf den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge.

2. Hinrichtungen Tausende Menschen wurden im Lager durch Erhängen oder Erschießen hingerichtet. Die SS versuchte, beinahe alle Spuren jener Orte zu beseitigen, an denen Exekutionen durchgeführt worden waren. Dennoch zeugen noch heute einige wenige bauliche Überreste davon.

3. Todesort Lagergrenze Regelmäßig wurden Häftlinge an der Lagergrenze von SS-Wachposten erschossen oder in den Starkstromzaun getrieben. Von der SS wurden diese Morde als „Erschießung auf der Flucht“ oder „Selbstmord durch Elektrizität“ getarnt. Sie sind durch SS-Fotografien belegt, die in Nachkriegsprozessen als Beweismittel dienten.

4. Tod im Steinbruch In den Steinbrüchen der KZ Mauthausen und Gusen ließen tausende Häftlinge ihr Leben. Die SS ermordete sie, indem sie sie über den Steinbruchrand stieß oder schwer beladen über die Steinbruchstiege trieb. Die „Todesstiege“ des Steinbruchs von Mauthausen wurde später zu einem Symbol und Erinnerungsort.

5. Tödliche Medizin Um Platz zu schaffen und sich „unnützer Esser“ zu entledigen, ermordete die SS systematisch kranke Häftlinge. Tausende wurden in die Gaskammer der Tötungsanstalt Hartheim geschickt. Die Verbrechen der SS-Ärzte wurden in der Nachkriegszeit Gegenstand von Gerichtsverfahren gegen ehemalige Täter.

6. Mord durch Giftgas Tausende Häftlinge wurden in der Gaskammer des KZ Mauthausen und im sogenannten Gaswagen ermordet. Die Beseitigung der Tötungsanlagen und anderer Beweise durch die SS lieferte in der Nachkriegszeit die Argumentationsgrundlage für die revisionistische Leugnung des Massenmords durch Giftgas.

7. Die Beseitigung der Leichen Lagereigene Verbrennungsöfen ermöglichten der SS, die zahlreichen Leichen zu entsorgen und zugleich die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Heute sind die Krematorien zentrale Orte des Totengedenkens.

Der „Raum der Namen“#

In diesem neuen Gedenkraum werden alle namentlich bekannten im KZ Mauthausen/Gusen Verstorbenen aufgelistet. Die Namen sind in zufälliger Anordnung auf horizontal liegende Glasplatten gedruckt, zwischen denen die BesucherInnen hindurchgehen. Zusätzlich liegen im Raum Gedenkbücher auf, in denen die Namen alphabetisch geordnet sind und gezielt nach Personen gesucht werden kann.

Raum der Namen
Raum der Namen Foto: BM.I/Stephan Matyus
Raum der Namen
Raum der Namen Foto: BM.I/Stephan Matyus

Derzeit sind die Namen von über 81.000 Toten bekannt, die zwischen 1938 und 1945 im KZ Mauthausen und seinen Außenlagern verstorben sind. Es wurde versucht, diese in ihrer originalen Schreibweise wiederzugeben. Ziel des „Raums der Namen“ ist es, das Ausmaß des Massenmords an Personen aus über 40 Ländern sichtbar zu machen und allen Opfern in gleichem Maße ein würdiges Andenken zu bewahren.

Die Objekte der Ausstellungen#

Thema Todesstiege
Thema Todesstiege Foto: BM.I/Stephan Matyus
Eine der elementarsten Entscheidungen der AusstellungskuratorInnen war von Anfang an, dass Originalobjekte in den neuen Dauerausstellungen der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eine zentrale Rolle spielen sollten. Mit Hilfe originaler Gegenstände können komplexe Geschichten auf lebendige Weise an AusstellungsbesucherInnen vermittelt werden und anhand konkreter Objektgeschichten die Entwicklung des Konzentrationslagers Mauthausen und die Geschichte der Inhaftierten erzählt werden. Als Ausstellungsobjekte ausgewählt wurden vor allem jene Artefakte, die die Biographien von ehemaligen Häftlingen besonders eindrucksvoll repräsentieren.

Das Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen verfügt im Vergleich zu anderen KZ-Gedenkstätten über einen relativ kleinen Bestand an Originalobjekten. Im Laufe der letzten Jahre wurden jedoch auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers in Kooperation mit Claudia Theune (Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Wien) etliche archäologische Untersuchungen durchgeführt, die einige Funde zu Tage gebracht haben. Darüber hinaus wurden 2011 drei Teiche des ehemaligen Steinbruchs von Polizei-Tauchern des Einsatzkommandos Cobra abgesucht. In weiterer Folge konnten zahlreiche Originalobjekte geborgen werden, die unter Berücksichtigung des Stellenwerts der Artefakte als historische Dokumente und unter Aspekten konservatorischer Notwendigkeit restauriert wurden.

Für die Beschaffung von Ausstellungsobjekten, die sich im Besitz anderer Archive, Institutionen oder Privatpersonen befanden, wurden Vorrecherchen durchgeführt. So sind bei der inhaltlichen Bearbeitung von Interviews mit ehemaligen Häftlingen des Lagersystems Mauthausen-Gusen Informationen zu Objekten aufgetaucht, die aus der Lager-Zeit stammen und sich im Privatbesitz der interviewten Personen befanden. Ein Beispiel hierfür sind die persönlichen Artefakte der Überlebenden Stanisław Kudliński, Włodzimierz Rabczewski und Giuseppe Marafante, die im Rahmen des „Mauthausen Survivors Documentation Project“ interviewt worden waren. Stanisław Kudliński erwähnte in seinem Interview, dass er nach der Befreiung im Jahr 1945 auf einem Fahrrad aus Mauthausen nach Polen zurückgekehrt war. Dieses Fahrrad befindet sich heute im Besitz seiner Tochter Aurelia Płotkowiak, die diesen wertvollen Gegenstand der KZ-Gedenkstätte Mauthausen für die neue Überblicksausstellung zur Verfügung stellte.

Włodzimierz Rabczewski berichtete in seinem Interview von einem Aufnäher und einem Armband, die von seinen Kameraden 1944 an ihren Arbeitsplätzen in der Rüstungsfertigung im KZ Gusen heimlich für ihn hergestellt wurden. Giuseppe Marafante hatte aus Materialresten im Lager Löffel und Messer angefertigt, obwohl dessen Besitz im Lager verboten war. Für die Familie Marafante, die diese Gegenstände der Gedenkstätte überließen, war es trotz des starken ideellen Wertes dieser Objekte besonders wichtig, dass sie von möglichst vielen Menschen gesehen werden können.

Die Französin Marguerite Lagrange (geb. Bertrand) trug 1945 im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück und im KZ Mauthausen ein Häftlingskleid. Dieses Kleid, das im Zuge eines Rechercheprojekt von Ilsen About gefunden wurde, konnte vom Centre d’Histoire de la Résistance et de la Déportation in Lyon, Frankreich, ausgeliehen werden.

Gewaltherrschaft
Gewaltherrschaft Foto: BM.I/Stephan Matyus
Vitrine zum Thema 'weibliche Häftlinge'
Vitrine zum Thema "weibliche Häftlinge" - Foto: BM.I/Stephan Matyus

Aus der langen Liste der privaten und institutionellen Leihgeber ist die KZ-Gedenkstätte Theresienstadt (Památník Terezín) hervorzuheben. Insgesamt werden 21 Originalobjekte aus Terezín gezeigt, darunter beispielsweise der Abluftventilator der Gaskammer, der nach der Befreiung von tschechischen Häftlingen gesichert und in den 1950er Jahren der Gedenkstätte Theresienstadt übergeben wurde. Ein weiteres Ausstellungsstück ist ein Karton mit Erde aus Mauthausen – ein Symbol für den „Friedhof“, den das gesamte ehemalige Lagergelände darstellt – die ein tschechischer Überlebender in die Heimat mitnahm und der Gedenkstätte Theresienstadt übergab.

Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen kann auf eine mehrere Jahre bestehende freundschaftliche Zusammenarbeit mit der Amicale de Mauthausen zurückblicken, die bezüglich der Ausstellungsgestaltung intensiviert wurde. So wurden 2012 zwei Leihverträge abgeschlossen. Eines der Ausstellungsobjekte, welches den Alltag der KZ-Häftlinge darstellen soll, ist eine Statuette des ehemaligen Häftlings Ángel Hernández García. Das Werk des Spaniers trägt den Titel „La soupe“ und zeigt KZ-Gefangene bei der Suppenausgabe. Bei dem zweiten Objekt handelt es sich um ein Relief von Antonín Nykl und zeigt einen toten KZ-Häftling im Stacheldraht. Nykl wurde in Mauthausen befreit und blieb dort bis zum 23. Mai 1945. Am 16. Mai 1945 fand eine Abschiedsfeier für die ehemaligen sowjetischen Häftlinge anlässlich ihrer Repatriierung statt. Das Podium war mit dem von Antonín Nykl gefertigten Relief versehen. Ein Modell dieses Reliefs erhielt die KZ-Gedenkstätte Mauthausen von der Amicale de Mauthausen als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt.

Seit knapp zehn Jahren gibt es Kontakte zum United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) und eine Kooperation auf institutioneller Ebene. Im Oktober 2012 wurde ein Leihvertrag für zwei Originalobjekte unterzeichnet. Es handelt sich bei den Artefakten um die Babykleidung von Hana Berger-Moran (geb. Löwenbein), welche von Mithäftlingen ihrer Mutter aus Stoffresten angefertigt wurde, sowie das Tagebuch von Michael Kraus, in dem er seine Erfahrungen während des Todesmarsches von Auschwitz-Birkenau nach Mauthausen und nach der Befreiung des KZ Mauthausen verarbeitet hat. Nach der Auflösung des Außenlagers Melk musste er einen mehrtägigen Fußmarsch von Mauthausen in das Auffanglager Gunskirchen durchstehen, wo er am 5. Mai 1945 von U.S.-Soldaten befreit wurde.

Wie breit unsere Suche nach originalen Artefakten geografisch gestreut war, zeigen auch die Bemühungen, bedeutende Objekte wie das erste Totenbuch des KZ Mauthausen aus den National Archives and Records Administration (NARA) in den USA sowie das Veraschungsbuch des Krematoriums Gusen aus dem Staatlichen Archiv der Russischen Föderation (GARF) in Moskau zu bekommen.

Darüber hinaus wollen wir auf die große Unterstützung aus der lokalen Umgebung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen hinweisen, die es uns ermöglicht hat, einige Objekte in der Ausstellung zu zeigen, die aus dem Ort Mauthausen selbst stammen. Hier sei besonders die aus dem Jahr 1921 stammende Fahne der Sozialistischen Partei Österreichs aus Mauthausen hervorgehoben. Einen wichtigen Partner bei der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen fanden wir auch im Bürgermeister von Mauthausen Thomas Punkenhofer, der uns Werksteine aus dem Steinbruch Mauthausen als Dauerleihgabe übergeben hat.

Die neu eröffneten Ausstellungen zeigen insgesamt etwa 130 Originalobjekte, die künftig auch für die Vermittlungsarbeit in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eine große Rolle spielen werden.

Redaktion: Katharina Czachor

Die Rede der israelischen Justizministerin Tzipi Livni am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, 5. Mai 2013.
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Die israelische Justizministerin Tsipi Livni
Frau Minister Tzipi Livni - Foto BM.I/Egon Weissheimer
Ich bin heute in Begleitung meiner Familie hier.
Ich bin mit meinem Schwiegervater Moshe Spitzer hier, der von Mengele zum Leben verurteilt worden ist, Mengele hat entschieden dass er zur Tötungsmaschinerie der Nazis noch beitragen kann und hat ihn, seinen Vater und Brüder aus Auschwitz nach Mauthausen geschickt.


Es war hier in Mauthausen, am Tag der Befreiung, dass er seinen Vater das allerletzte Mal gesehen hat. Ich bin auch mit meinen beiden Söhnen hier – Omri und Yuval – die in Israel geboren sind und in der israelischen Verteidigungsarmee gedient haben – der Armee des Jüdischen Staates, der nach dem Holocaust geschaffen worden ist. Wir alle stehen heute hier für eine größere Familie – die Familie der Jüdischen Nation. Einer Familie, die viel kleiner geworden ist, nachdem sie sechs Millionen ihrer Töchter und Söhne auf europäischem Boden verloren hat. Eine Familie die fähig war, ein neues Zuhause im Staat Israel zu schaffen, der Juden aus aller Welt aufgenommen hat. Ein Zuhause das jene vereint hat, die vor dem Holocaust im Land Israel lebten und jene, die danach gekommen sind. Einige von uns – wie meine Kinder und ich – sind in Israel geboren. Einige – wie meine Eltern – sind als Teil der Zionistischen Bewegung vor dem Holocaust nach Israel gekommen und einige kamen aus verschiedenen Teilen der Welt. Unter ihnen waren die Überlebenden des Holocaust, sie sind mit Narben nach Israel gekommen. Die Narben auf ihrem Körper und in ihrer Seele sind nicht nur ihre Narben – es sind UNSERE Narben – die Narben jedes Angehörigen der Jüdischen Familie. So wie eine Mutter ihr verlorenes Kind niemals vergisst, wird auch Israel seine Toten und den Holocaust nie vergessen, selbst lange nachdem die Überlebenden nicht mehr mit uns sein werden. Die Überlebenden haben offene Wunden – wir alle haben unbeantwortete Fragen. Bevor wir hierher kamen hat mein Schwiegervater mich gefragt, ob er Ihnen hier heute eine Frage stellen könne. Ich dachte, er würde fragen wollen „Warum?“, „Hat es eine Möglichkeit gegeben, die Katastrophe zu verhindern?“, „Wussten die Menschen, was in ihrem Hinterhof vor sich ging?“, „Wie konnten sie erlauben, dass es passierte?“. Das sind die Fragen die wir alle uns stellen – die nationalen Fragen.


Aber, Damen und Herren, diese standen nicht auf der Liste meines Schwiegervaters! Er möchte Sie nur fragen ob irgendjemand weiß, was mit seinem Vater geschehen ist. Mein Schwiegervater, Herr Spitzer, der Enkel und Urenkel hat, steht im Alter von 85 Jahren heute hier und möchte nur wissen, wohin die Autos seinen Vater gebracht haben, der den Horror überlebt hatte. Sehen Sie geschätzte Damen und Herren? Die Überlebenden können den Erinnerungen nicht entkommen und nicht den Fragen, die sie quälen. Sie könnten es wollen – aber sie schaffen es nicht. Auch wir, die wir nicht hier waren, können und dürfen nicht vergessen. Die Nummern, die in Auschwitz auf den Arm eintätowiert worden sind, sind in unserer Seele eingraviert. Als israelische Verantwortliche müssen wir an die nationalen Fragen denken – nicht um Antworten über die Vergangenheit zu bekommen sondern um Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in Auschwitz. Ich war ein neues Mitglied der Knesseth (israelisches Parlament, Anm.) und ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, ob ich, als eine Verantwortliche, damals unmittelbar in der Lage gewesen wäre, die beginnende Katastrophe zu erkennen – und ich weiß, dass jeder israelische Verantwortliche sich diese Frage stellt.


Ich erzähle Ihnen dies heute, damit Sie Israel besser verstehen. Es gibt jene, die Israel als starke Macht sehen – und das ist es. Aber für uns ist der Alptraum des Holocaust ein Teil von uns, aus dem heraus wir uns in eine sehr schwierige Wirklichkeit in einer Region bewegen, die unsere physische Existenz bei weitem nicht anerkennt. Deshalb werden wir den Holocaust nicht vergessen. Die Erinnerungen sind nicht um der Überlebenden willen, sie sind für uns. Wir schicken unsere Kinder um die Konzentrationslager zu sehen und da, in den Lagern, hüllen sie sich in die israelische Flagge wie in den jüdischen Tallit, der für die letzten Gebete für jene war, die hier zu Asche geworden sind.


Damen und Herren,


Jahre nachdem der Davidstern – der Magen David – als gelber Fleck auf die Häftlingsuniformen genäht wurde, hat er sich in das Blau und Weiß des Magen David verwandelt, der auf den Flügeln der Israelischen Luftwaffenjets eingeprägt ist. Aber wir wollen und müssen uns an den gelben Fleck erinnern. Dieser gelbe Fleck bedeutet nicht mehr Schwäche, jetzt ist er eine Quelle von Stärke und Stolz.


Wir erinnern für Israel und wir erinnern für die ganze Welt. Wir werden die Welt das Unheil nicht vergessen lassen, das Menschen einer anderen Nation antun können, die unmenschliche Grausamkeit mit menschlichem Hass. Es ist nicht für uns, dass wir die Welt nicht vergessen lassen wollen, sondern für die Zukunft der Menschheit. Die Lektion muss gelernt werden – nicht für die vergangenen Toten, sondern um in Zukunft Grausamkeit und Tod zu verhindern. Die freie Welt muss dem Ausdruck „Niemals wieder“ praktischen Inhalt geben. Dieser praktische Inhalt muss einschließen, künftige Generationen gegen Rassismus und den Hass anderer zu erziehen – und er muss gegen Verantwortliche gerichtet sein, die von Hass und Genozid reden und gegen jene, die ihre eigenen Leute massakrieren. Das ist UNSERE Verantwortung. Während ich heute hier bin, hat auch die israelische Regierung ein besonderes Kabinettstreffen auf dem Herzl-Berg, als Erinnerung an einen großen zionistischen Anführer, der hier in Wien geboren wurde und von einem Jüdischen Staat geträumt hat. Ich bin heute als Justizministerin des Jüdischen Staates gekommen um zu sagen „Niemals wieder“.

Übersetzung aus dem Englischen: Marianne Enigl - Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Profil" (13. Mai 2013)

Tzipi Livni spricht
Tzipi Livni spricht