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Ausdehnung der Kampfzone #

Im digitalen Zeitalter steigt der Druck auf die Aufmerksamkeit: Je mehr sie zur begehrten Ware wird, umso wichtiger ist ihr Schutz und ihre Schulung. #


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von DIE FURCHE (Donnerstag 3. September 2015)

Von

Martin Tauss


Das Wichtige zuerst: Aufmerksamkeit kann Ihr Leben retten. Allein ein Blick in die Unfallstatistiken reicht für diese Feststellung. Unaufmerksamkeit zählt im Straßenverkehr zu den häufigsten Unfallursachen. Im ersten Halbjahr 2015 war dies der häufigste Grund für tödliche Verkehrsunfälle. Im Schlepptau einer europaweiten Initiative hat der österreichische Autoclub ÖAMTC daher nun eine Kampagne gegen Unachtsamkeit im Straßenverkehr gestartet: „Kopf drehen, andere sehen.“ Und auch die Stadt Wien wirbt derzeit für mehr Aufmerksamkeit im Straßenverkehr, um die Zahl der Unfälle zu reduzieren – dies freilich etwas bodenständiger: „Deppert, wenn’s scheppert“, lautet hier das Motto.

Von der existenziellen Bedeutung der Aufmerksamkeit wissen etwa auch Bergsteiger und Kletterer zu berichten. Wer auf ausgesetzten Graten wandelt oder in der senkrechten Wand nach oben turnt, darf sich keine gröbere Ablenkung mehr leisten. In brenzligen Situationen oder im Wettkampf schaltet der Körper auf das höchste Aktivitätsniveau, in einen Zustand der Alarmbereitschaft, in dem die Aufmerksamkeit zum kristallklaren Fluss werden kann. Davon weiß auch so mancher Sportler ein Lied zu singen: Die Notwendigkeit, wirklich präsent zu sein, kann zu Phasen einer stark gesteigerten Aufmerksamkeit führen, in der das Tun in einen anderen Modus gerät: Fußballer glänzen mit atemberaubenden Aktionen, die schneller als das Denken sind; Tennisspieler zaubern Schläge hervor, die sie selbst zum Staunen bringen. Das sind magische Momente einer fließenden, konzentrierten Aufmerksamkeit – gewissermaßen eine Kostprobe ihrer Potenziale.

Das aber ist weit entfernt vom alltäglichen Zustand unserer Aufmerksamkeit, deren Beurteilung bei näherem Hinsehen eher ernüchternd ausfällt. Denn wenn sie nicht gerade gefordert wird, neigt sie dazu, abzugleiten und sich in alle Richtungen zu zerstreuen. Wie ein kleiner Hund läuft sie jedem Knochen hinterher, der gerade im Blickfeld erscheint – seien es innere Vorgänge wie schöne Erinnerungen, interessante Gedanken und verlockende Phantasien oder äußere Reize wie die das knallige Cover einer Illustrierten, das erotisch aufgeladene Werbeplakat oder der Signalton für die eintreffende SMS. Dieses unwillkürliche Wandern der Aufmerksamkeit ist ein Thema, das in der Forschung erst seit kurzem aufgegriffen wird. Philosophen wie Thomas Metzinger und Mediziner wie Joachim Bauer haben die Einsicht formuliert, dass wir den Großteil unseres Wachbewusstseins nicht über geistige Selbstbestimmung im engeren Sinn verfügen. Und dass mit dem Problem der (un)bewussten Aufmerksamkeit nichts Geringeres als unsere mentale Autonomie, unsere Fähigkeit zur „Selbststeuerung“ auf dem Spiel steht.

Ökonomie der Aufmerksamkeit #

Der konkrete Anlass für solche Überlegungen ist das Gefühl der Reizüberflutung, das mit den neuen Medien hereingebrochen ist. Wohl noch nie war die Menschheit mit einem dermaßen dichten Angebot an Aufmerksamkeitsfängern konfrontiert. Doch die Kapazität unseres Gehirns zur Informationsverarbeitung ist äußerst begrenzt. Das illustriert ein Versuch von US-Forschern, die eine Person im Gorilla-Kostüm durch eine Gruppe von Basketball-Spielern marschieren ließen: Meist bleibt der Affe unerkannt, wenn der Betrachter vorher den Auftrag bekam, die Pässe zwischen den Spielern zu zählen. „Unaufmerksamkeitsblindheit“ heißt dieser Effekt, der nun von Psychologen der Uni Klagenfurt in Form einer „Unaufmerksamkeitstaubheit“ bestätigt wurde: Denn auch ein rockiges E-Gitarrensolo, eingebaut in ein Stück klassischer Musik, wird oft überhört, wenn die Probanden nur auf die Zahl der Paukenschläge achten sollen.

Der wachsenden Informationsflut steht somit eine knappe, verletzliche Ressource gegenüber: die menschliche Aufmerksamkeit. Die zunehmende Beanspruchung unserer limitierten Aufnahmefähigkeit hat eine neue Kampfzone hervorgebracht, die heute als „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ diskutiert wird: Neue Märkte seien entstanden, wo primär um Beachtung gebuhlt und gerangelt wird – wo nicht mehr Ware gegen Geld, sondern Information gegen Aufmerksamkeit getauscht wird, so Georg Franck, der diesen Begriff geprägt hat: „Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht, darum verblasst der Reichtum neben der Prominenz.“

Tatsächlich geht es in einer Gesellschaft des permanenten Castings vor allem darum, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – nicht nur, um prominent zu werden, sondern um überhaupt in Betracht gezogen zu werden, als Verkäufer, Dienstleister, Jobwerber oder auch als potenzieller Partner. „Attraktivität“ (i. e. Anziehungskraft) hat insofern unermessliche Bedeutung erlangt. Ungemein hellsichtig, was der britische Philosoph George Berkeley schon 1709 konstatiert hat: „Sein ist Wahrgenommen-Werden.“

Im zunehmenden Kampf um Aufmerksamkeit ist eine Gruppe besonders exponiert: Kinder und Jugendliche sind in ihrer biologischen Ausstattung noch benachteiligt, wenn es darum geht, Ablenkungen zu vermeiden und die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Denn diese Fähigkeiten werden dem vorderen Stirnlappen zugeordnet, einem Gehirnareal, dessen Reifung erst im frühen Erwachsenenalter abgeschlossen ist. Das Potenzial, Unwesentliches auszublenden, ist bei Jugendlichen daher noch schlechter ausgeprägt als bei Erwachsenen. Was aber ergibt sich aus all dem?

Zunächst ist die grundlegende Reflexion der Aufmerksamkeit angesagt, und vieles spricht dafür, dass das aktuelle wissenschaftliche Interesse zu verfeinerten Konzepten und fruchtbaren Anwendungen führen kann. Aufmerksamkeit ist ein knappes und kostbares Gut. Wie wir mit dieser Ressource umgehen, wird zunehmend auch auf einer kulturellen Ebene existenziell und überlebenswichtig: Wird sie manipuliert oder geschult, ausgebeutet oder kultiviert?

Ökologie der Aufmerksamkeit #

Somit bedarf es, zweitens, zeitgemäßer Visionen jenseits des Regimes einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Im heuer publizierten „Onlife-Manifesto“, das Beiträge zur Gestaltung des digitalen Wandels in der EU enthält, findet sich etwa das Konzept einer „Ökologie der Aufmerksamkeit“: Dies soll dazu anregen, den Schutz unserer geistigen Ressourcen als politisches Anliegen zu begreifen, so wie die „grüne Ökologie“ einst den Schutz der natürlichen Ressourcen vorangetrieben hat. Das führt, drittens, zur Frage nach probaten Wegen zur Schulung der Aufmerksamkeit. Um damit eine gesellschaftliche Breitenwirkung zu erreichen, werden hier zuweilen schon flächendeckende Maßnahmen für Heranwachsende angedacht: Der Philosoph Thomas Metzinger etwa fordert Achtsamkeitstraining in den Schulen, sein Berufskollege Christoph Türcke spricht sich für Ritualkunde ergänzend zum Unterricht aus.

Eines steht fest: Die Fähigkeit des Aussiebens, des Filterns, der Konzentration auf das Wesentliche wird angesichts der „digitalen Verschmutzung“ immer wichtiger. „Die Überlebensstrategie besteht darin, dass wir lernen, uns zu fokussieren“, bemerkt der US-amerikanische Psychologe Daniel Goleman in seinem Buch „Konzentriert Euch!“. Zugegeben, das ist keine leichte Aufgabe – aber sie kann uns bislang ungeahnte Freiräume eröffnen.

DIE FURCHE, Donnerstag 3. September 2015


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