Österreich: Austrofaschismus, autoritärer Ständestaat oder Kanzlerdiktatur?
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Schon seit Karl Renner hatte die junge Republik versucht, sich der Hilfe und des Schutzes Italiens zu versichern. Dies gelang auch bis zu jenem Punkt, an dem Mussolini das Zusammenwirken mit Hitler wichtiger wurde als das Zusammengehen mit Österreich. Aus dem faschistischen Italien bezog Österreich nicht nur Waffen für seine Privatarmeen, sondern - genauso wie Hitlerdeutschland - auch Elemente der faschistischen Ideologie und Symbolik. Ursprünglich vom Gedanken des Anschlusses an Deutschland beseelt, besann sich die Erste Republik nach der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß am 25. Juli 1934 zwar immer mehr auf ihre Eigenständigkeit, suchte diese aber durch den Einsatz einer Symbolik zu bewahren, die jener des Nationalsozialismus analog war. Selbst die für den 13.3.1938 geplante Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs waren auf ein "deutsches" Österreich ausgerichtet: Die Frage sollte lauten, ob das Volk ein „freies und deutsches, unabhängiges und soziales, ein christliches und einiges Österreich“ wolle oder nicht. Kurt Schuschnigg hatte mit diesem Vorhaben sein Kabinett nicht befasst, wie es die Verfassung vorgesehen hätte. Die Stimmauszählung sollte allein von der Vaterländischen Front vorgenommen werden. Die Angehörigen des Öffentlichen Dienstes sollten am Tage vor der Wahl in ihren Abteilungen geschlossen unter Aufsicht zur Wahl gehen und ihre ausgefüllten Wahlzettel ihren Vorgesetzten offen übergeben. Außerdem sollten in den Wahllokalen nur Stimmzettel mit dem Aufdruck „JA“ ausgegeben werden, was ein „Ja“ zur Unabhängigkeit bedeutet hätte. Der Plan veranlasste Hitler, sofort Vorbereitungen für eine Okkupation Österreichs zu treffen. Aufgrund eines deutschen Ultimatums sagte Schuschnigg jedoch am 11.3.1938 die Volksabstimmung ab. Noch am 9. März 1938 hatte Kurt Schuschnigg bei seiner berühmten Rede vor Amtswaltern in Innsbruck ("Mander, 's ischt Zeit!") die seit 1920 von der NSDAP verwendete Anrede verwendet :"Darum, Volksgenossen, zeigt, dass es euch ernst ist mit dem Willen, eine neue Zeit der Eintracht im Interesse der Heimat zu beginnen; die Welt soll unseren Lebenswillen sehen."
Idee, Gesellschaftsaufbau und Symbolik des autoritären Ständestaats folgten faschistischen Vorbildern:#
- Der autoritäre Ständestaat wurde nach den „Korporationen" des italienischen Faschismus konstruiert. Dabei wurde auch auf das Gedankengut der katholischen Soziallehre zurückgegriffen.
- Abschaffung des Mehrparteiensystems und eines unabhängigen Parlaments
- "Anhaltelager" für Regimegegner
- Die „Vaterländische Front (VF)" als einheitliche „Staatspartei"
- Gesellschaftsordnung nach dem Führerprinzip
- Paramilitärische Organisationen mit (halb)militärische Uniformierung
- Der faschistische Gruß, in der Regel mit der erhobenen Hand, manchmal auch mit gezogenem Dolch
- Der Gruß: "Front Heil", später "(Heil) Österreich" mit den zwei Schwurfingern der erhobenen Rechten
- Der „Korneuburger Eid", mit dem der westliche demokratische Parlamentarismus und der Parteienstaat verworfen werden.
- Das Kruckenkreuz als Rückgriff auf ein Kreuzritter-Symbol zur Abwehr des aggressiven Hakenkreuzes und als Ausdruck einer „christlich-deutschen Ostmarkmission" Österreichs.
- Das Dollfußlied als Kampfgesang neben der Staatshymne - ganz nach dem Muster des Horst Wessel-Liedes
- Die „Ostmärkischen Sturmscharen" mit dem hochgestellten weißen Chi-Ro (Christusmonogramm) in einer schwarzen Raute
- Das „Freiwillige Sturmkorps" (FS) als Ordnertruppe Schuschniggs mit Imponiergehabe (dunkelblaue Uniformen, Stiefel, Sturmkappen mit Kinnriemen) nach dem Vorbild von SA und SS
Der sogenannte "Austrofaschismus" (auch "Klerikofaschismus" - wegen seiner engen Bindung an die katholische Kirche) des autoritären Ständestaats (1934-1938) unterscheidet sich trotz seiner Symbolik wesentlich vom italienischen Faschismus und vom Nationalsozialismus, denn es fehlten folgende Elemente:
- Wirksame Massenbasis
- Nationaler Expansionsdrang
- Rassenhass als Staatsdoktrin
- Überwachungsstaat
Ohne eine wirksame Massenbasis, ohne einen charismatischen Führer blieb die österreichische Form des autoritären Regimes ein "Halbfaschismus" - wie so vieles in Österreich (vergleiche Grillparzers berühmtes Zitat über die "halben Wege"). Jedenfalls war der "Bundesstaat Österreich" - der Idee nach "christlich-deutscher Ständestaat" ein autoritäres Regime, also eine Diktatur. Sie wird wegen der Konzentration vieler Kompetenzen beim Bundeskanzler auch als "Kanzlerdiktatur" bezeichnet. Umgekehrt rechtfertigen die Ausschaltung des Parlaments, die Schaffung einer Einheitspartei (VF) und einer "Staatsjugend", der Einsatz paramilitärischer Verbände sowie die Internierung oder sogar Hinrichtung politisch unliebsamer Personen die Eindordnung in den europäischen Faschismus.
Die Ostmärkischen Sturmscharen waren eine am 7. 12. 1930 in Innsbruck gegründete, aus der Katholischen Jugend, später aus Gesellen- und Lehrerorganisationen rekrutierte politische Wehrformation, die im Gegensatz zur Heimwehr stand. "Reichsführer" war Dr. Kurt Schuschnigg. 1933 wurden die Ostmärkischen Sturmscharen auf ganz Österreich ausgeweitet, hatten nach eigenen Angaben 15.000 Mitglieder, genossen aber geringes Ansehen. In Niederösterreich nahmen sie die "Niederösterreichische Heimwehr" auf und wurden vom Bauernbund gefördert, Landesführer war Bauernbunddirektor Leopold Figl. Am 11. 4. 1936 erklärten sich die Ostmärkischen Sturmscharen als Kulturorganisation, sodass sie die Auflösung aller Wehrverbände im Oktober 1936 nur mehr formal betraf.
Zu den Abzeichen der VF vergleiche den Beitrag von Peter Hauser
Ansprache von Engelbert Dollfuß mit Darstellung von Symbolen des Ständestaates über YouTube abspielen
Text der Trabrennplatzrede vom 11. September 1933
Sammlung von Zitaten über Dollfuß und den autoritären Standestaat
Literatur:#
- Spann, Othmar: Gesellschaftslehre, Leipzig 1923
- Winter, Ernst Karl: Mythos und Staat, Wien 1934
- Huebmer, Hans Österreich 1933-1938. Der Abwehrkampf eines Volkes. Wien 1949
- Schuschnigg, Kurt von: Dreimal Österreich, Wien 1938
- Brook-Sheperd, Gordon: Engelbert Dollfuss, Graz/Wien 1961
- Brook-Shepherd, Gordon: Der Anschluss.
- Zentner, Christian: Heim ins Reich. Der Anschluss Österreichs 1938.
- Tomkowitz, Gerhard /Wagner, Dieter Ein Volk, ein Reich, ein Führer. München, 1968
- Drimmel, Heinrich: Vom Kanzlermord zum Anschluss. Österreich 1934-1938.
- Andics, Hellmut: 50 Jahre unseres Lebens. Österreichs Schicksal seit 1918, Wien 1968
- Schuschnigg, Kurt von: Im Kampf gegen Hitler. Die Überwindung der Anschlussidee, Wien 1969
- Starhemberg, Ernst Rüdiger: Memoiren, Wien/München 1971
- Meysels, Lucian O.: Der Austro-Faschismus Das Ende der ersten Republik und ihr letzter Kanzler, Wien 1972
- Emmerich, Talos/Neugebauer Wolfgang:"Austrofaschismus". Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934-1938, Wien 1984
- Weinzierl, Ulrich: Februar 1934 - Schriftsteller erzählen. Wien 1984
- Veiter, Theodor: Das 34er Jahr. Bürgerkrieg in Österreich. Wien 1984
- Maimann, Helene/ Siegfried Mattl (Hrsg.): Die Kälte des Februar. Österreich 1933-1938. Wien 1984
- Reichhold, Ludwig: Kampf um Österreich - Die Vaterländische Front und ihr Widerstand gegen den Anschluss 1933 - 1938, Wien 1984
- Meysels, Lucian O.: Der Austrofaschismus. Das Ende der ersten Republik und ihr letzter Kanzler. Wien/ München 1992
- Kriechbaumer, Robert: Zwischen Kruckenkreuz und Hakenkreuz : Schule im autoritären und totalitären Staat, dargestellt am Beispiel Pongauer Schulchroniken 1934 - 1945, Salzburg 1993
- Dollfuß, Eva: Mein Vater. Hitlers erstes Opfer. Wien 1994
- Weinzierl, Erika : Der Februar 1934 und die Folgen für Österreich, Wien 1994
- Kriechbaumer, Robert: Ein vaterländisches Bilderbuch. Propaganda, Selbstinszenierung und Ästhetik der Vaterländischen Front 1933 - 1938, Wien 2002
- Kindermann, Gottfried-Karl: Österreich gegen Hitler - Europas erste Abwehrfront 1933-1938 München 2003
- Walterskirchen, Gudula: Engelbert Dollfuß. Arbeitermörder oder Heldenkanzler Wien 2004
- Kriechbaumer, Robert (Hg.) Österreich! und Front Heil! Aus den Akten des Generalsekretariats der Vaterländischen Front. Salzburg 2005
- Scheuch, Manfred: Der Weg zum Heldenplatz - Eine Geschichte der österreichischen Diktatur 1933-1938, Wien 2005
- Jezussek, Roland: Der "Austrofaschismus" - ein Modell autoritärer Staatsfor, VDM 2009
- Maaß, Sebastian: Dritter Weg und wahrer Staat: Othmar Spann - Ideengeber der Konservativen Revolution, 2010
- Reiter-Zatloukal, Ilse / Rothländer, Christiane / Schölnberger, Pia (Hg.): Österreich 1933-1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime. 2012
- Tálos, Emmerich: Das austrofaschistische Herrschaftssystem, Wien 2013
- Florian Wenninger, Florian (Hrsg.) und Lucile Dreidemy, Lucile (Hrsg.) Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933-1938: Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien 2013
- Dreidemy, Lucile: Der Dollfuß-Mythos. Eine Biographie des Posthumen. Wien, 2014