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2 Einführung
Was jetzt etwadieHasenmachenwerden,wennesfinster istund
vondenBlättern tropft?AmBaumamSeewerdensieauchnicht
mehr lange wohnen bleiben, weil ihnen im Lager nichts mehr
serviertwird.Siehabenes schonschwer. (S.162)
VondenHasen istheutenichtviel zuberichten,alsdassderSchnee
sie natürlich wenig freut. Weil sie zu gar keinen Kräften mehr
kommen. Aber es wird schon wieder die Zeit kommen, wo die
HasenKräuterhaben. (S.177)
Orte, an denen es „keine Hasen mehr“ gibt; Zeiten, zu denen es „den
Hasen“wiederbessergehenwird:mitderPrivatmythologieeinesLie-
bespaares allein lassen sich diese merkwürdigen Äußerungen kaum
mehr erklären.Spätestens mitErwähnung eines „Lagers“ (S.119, 162)
bietet sich jedoch eine Möglichkeit der Entschlüsselung an: Nach den
„Anschluss“ 1938 erwarb der Kommandant des KZ Dachau, Hans Loritz,
ein Grundstück bei St.Gilgen am Wolfgangsee, also in unmittelbarer
Nähe von St.Wolfgang, wo Lernet-Holenia lebte.250 KZ-Häftlinge aus
Dachau mussten dort mit der Errichtung einer Villa für Loritz beginnen;
wenig später kam es in St.Gilgen zur Gründung eines „Außenlagers“ für
männlicheHäftlingeausdemKZDachau.SiewarendortharterZwangs-
arbeit unter einem „sehr brutal[en]“ Aufseher ausgesetzt.251 Auch im
September1941,als LernetLotteSwecenygegenübereinzweitesMal
einLagererwähnt(S.162),bestanddieses „Außenlager“noch;eswurde
am 18. Dezember 1942 – wohl im Zuge der „Endlösung der Judenfrage“
–aufgelöst.
Mit großer Wahrscheinlichkeit bedient sich Alexander Lernet-Holenia
also in seinen Briefen an Lotte Sweceny einer Chiffre, bei der Hasen Ju-
den bezeichnen.252 Im Lichte dieser Interpretationsmöglichkeit ergäben
250 DerSchafberg, zudemLernetgehenwill, umzusehen, „wasdieHasenmachen“, liegt
zwischenSt.WolfgangundSt.Gilgen.
251 Vgl. Dirk Riedel: Der „Wildpark“ im KZ Dachau und das Außenlager St. Gilgen. Zwangs-
arbeit auf denBaustellen desKZ-Kommandanten Loritz. In: DachauerHefte 16(2000),
S. 54–70, hier S.65 (diesen Literaturhinweis verdanke ich Christian Strasser, Salzburg)
und Angelika Königseder/Wolfgang Benz (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischenKonzentrationslager. Bd.2:FrüheLager,Dachau,Emslandlager.
München: C.H. Beck 2005, S.493. Laut Riedel war „die Öffentlichkeit in St.Gilgen
über den Einsatz der KZ-Häftlinge durchaus informiert“ (Riedel: Der „Wildpark“ im KZ
Dachauund dasAußenlager St.Gilgen, S.65). HansLoritz waru.a. verantwortlich für
den Massenmord an 12.000 russischen Kriegsgefangenen in den Jahren 1941/42 (ebd.,
S.68).DasAnwesen inSt.Wolfgang istheute inprivatemBesitz.
252 Möglicherweise – Lernet bediente sich gerne aus dem Fundus von Mythologie und
Kunstgeschichte – nicht zufällig: „Manche Rabbiner [...] sahen in Hasen auch ein
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Alexander Lernet-Holenia und Maria Charlotte Sweceny
Briefe 1938-1945
- Titel
- Alexander Lernet-Holenia und Maria Charlotte Sweceny
- Untertitel
- Briefe 1938-1945
- Autor
- Christopher Dietz
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78887-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorien
- Weiteres Belletristik