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6.2 „DergeboreneVerleger“:MarkusStein,derGroßvater
6.2.3 KonversionzumProtestantismus
In seinem Bestreben, die ländlich-jüdischen Wurzeln möglichst bald
hinter sichzu lassen,glichMarkusSteinderĂĽberwiegendenMehrzahl
dervorallem inder zweitenHälftedes 19. Jahrhunderts ausdenKron-
ländern der Monarchie in die Hauptstadt ziehenden Juden. Den letzten
Schritt zur vollständigen Assimilation, die Ehe mit einer nichtjüdischen
Partnerin, vollzog jedocherst seinSohnRichard.34
MarkusSteinwarzueinemZeitpunktnachWiengekommen,dadie
Voraussetzungen für Zuwanderer aus dem ländlichen Raum, jüdische
zumal,besserwarendenn je:1848warendieWohn-undAnsiedlungsbe-
34 Die „Mischehe“markiert inderAssimilations-TheorieMiltonM.Gordons (Assimilation
in American Life, 1964) – auf die sich auch Rozenblit bezieht – die dritte und letzte, die
„strukturelle“ Stufe der Assimilation (nach der kulturellen und der sozialen); eine Stufe,
die, so lautet einederHauptaussagenRozenblits, durchdieHerausbildungvonGrup-
penzugehörigkeitsgefühlender jüdischenZuwandereruntereinandereineBegrenzung
erfuhr. Diese Tatsache wurde auch vom Zionismus kritisiert: „Das Ghetto besteht inner-
lich fort“, schrieb Theodor Herzl 1896 in seinem Judenstaat (zit. nach Rozenblit: Die
JudenWiens1867–1914,S.15).Esbliebalso indenmeistenFällenbeiderAkkulturation
(die etwa der ersten Stufe der Assimilation nach Gordon entspräche). Die besondere
Bildungsaffinität jüdischer Zuwanderer, die doch – mit Heinrich Heine – das „Entreebil-
let zurEuropäischen Kultur“ (in Gedanken undEinfälle 1845–1856; unterder gleichen
Überschrift, „Verehrung fürRom“,nenntHeineJudäaein „protestantischesÄgypten“)
sichern sollte,wurde so ineinerunerwartetendialektischenWendungzurAssimilations-
bremse: „Weltliches Wissen zu erlangen, stellte eine jüdische Gruppenaktivität dar, und
dieGruppennaturdieserErfahrungmodifizierteundverminderteAssimilation“ (ebd.,
S.132). Dass der Begriff der Assimilation problematisch ist, weil er „sich auf soziale,
kulturelle und psychische Prozesse [bezieht], als ob sie ein und dasselbe wären“, hat
u.a. Shulamit Volkov thematisiert – „zweitens tendiert er dazu, die diesen Prozessen
innewohnenden Wechselwirkungen zu verschleiern; und drittens bezeichnet er zugleich
einen Prozeß und seine Ergebnisse“ (Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller
Code.ZehnEssays. 2., durcheinRegister erw.Aufl.MĂĽnchen:C.H.Beck2000,S.132).
Für die Juden selbst hatte der umgangssprachlich verwendete Begriff „Assimilation“
jedoch imausgehenden19. JahrhundertpositiveBedeutung(ebd.). (Assimilationals
Angleichung einer ethnischen Gruppe an eine andere – so das zeitgenössische Begriffs-
verständnis – führt gerade in Bezug auf das ethnisch inhomogene Judentum der Wiener
Jahrhundertwende von vornherein in die Irre.) Die „kulturelle Angleichung“ – oder
eben Akkulturation – war für jüdische Bürger leichter zu bewerkstelligen als die soziale
Integration: Nicht selten waren sie bereits „akkulturiert“ nach Wien gekommen bzw.
hatte sie ihre an ihren ländlichen oder kleinstädtischen Geburts- und Ausbildungsorten
bereits erfolgte Akkulturation dazu bewogen, nach Wien zu ziehen. Jedenfalls: Die
Juden Wiens „waren bestrebt, sowohl eine jüdische als auch eine europäische Identität
herauszubilden,undsiewarenehrlichdavonĂĽberzeugt,daĂź ihnendies schlieĂźlichauch
gelingenwürde. DieGegebenheiten imÖsterreich dieserÄramögennicht dazuangetan
gewesen sein, dieses Ziel zu erreichen, doch das konnten die Juden Wiens nicht wissen“
(Rozenblit:Die JudenWiens1867–1914, S.195).
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Alexander Lernet-Holenia und Maria Charlotte Sweceny
Briefe 1938-1945
- Titel
- Alexander Lernet-Holenia und Maria Charlotte Sweceny
- Untertitel
- Briefe 1938-1945
- Autor
- Christopher Dietz
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78887-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorien
- Weiteres Belletristik