Seite - 27 - in Algorithmuskulturen - Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
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1. Was sind Algorithmuskulturen? 27
Seite. Sobald man den Schalter umlegt, ertönt ein zorniges, gezieltes Brummen. Der
Deckel erhebt sich langsam und darunter erscheint eine Hand. Die Hand greift nach
unten, legt den Schalter um und zieht sich wieder in das Kästchen zurück. Mit der End-
gültigkeit eines schließenden Sargs klappt der Deckel zu, das Brummen hört auf und es
herrscht wieder Frieden.« (Clarke 1959: 159)
Aufgrund ihrer ungewöhnlichen Funktionalität wurde sie auch als nutzlose Ma-
schine oder als Lass-mich-in-Ruhe-Box bezeichnet. Der von Miyazaki beschrie-
bene Fall ließe sich nun als eine komplexere Version einer solchen Maschine
deuten. Tatsächlich handelte es sich hier nicht um eine einzelne Maschine,
die sich selbst abschaltete, sondern um eine ganze Kette von Maschinen, die
algorithmische Interaktionen derart vollzogen, dass jede Maschine die sie be-
nachbarte just in dem Moment abschaltete, in dem diese den Wiederherstel-
lungsprozess abgeschlossen hatte. Während einfache ultimative Maschinen
noch auf Menschen angewiesen sind, die den Hebel umlegen, übernehmen
algorithmisch verstreute Dysfunktionalitäten auch diese Funktion. Sie erzeu-
gen so eine stabile Instabilität, deren unproduktive und dysfunktionale Routi-
nen nur durch einen nicht-algorithmischen Eingriff beendet werden können.
Wir haben es hier mit einem Fall algorithmischer Praktiken zu tun, in dem
Algorithmen beginnen in einem Muster zu (inter)agieren, das nicht in sie ein-
geschrieben wurde und das sie gänzlich leistungsunfähig werden lässt. Man
könnte eine solche Maschine als einen algorithmischen Bartleby beschreiben,
der die Forderung danach Routinen zu initiieren, mit einem spezifisch algo-
rithmischen Ich möchte lieber nicht zurückweist. Eine solche Beschreibung be-
herbergt eine verblüffende Erklärungskraft, insbesondere, wenn wir sie mit
den weiter oben angeführten Definitionen der Algorithmen als routinisier-
te Entfaltungen kontrastieren. So wie Bartlebys Verweigerung die täglichen
Arbeitsroutinen betrifft, hebt auch algorithmische Dysfunktionalität Routinen
auf – sie untergräbt Routinen und macht sie unproduktiv.
Instabile Algorithmen sind keine Seltenheit. Im Bereich des algorithmi-
schen Handels ist es nicht unüblich, dass Händler dazu genötigt sind, Algo-
rithmen aus instabilen Zuständen heraus zu zwingen. Beispielsweise können
Softwaredefekte oder Rückkopplungsschleifen Algorithmen um Grenzwerte
herum flattern lassen und die Algorithmen in einen Zustand versetzen in dem
sie unentwegt Aufträge platzieren und sogleich wieder löschen (Seyfert 2016).
Obgleich dieses Phänomenen schwierig zu greifen ist, wurde verschiedentlich
argumentiert, dass zahlreiche ungewöhnliche Marktereignisse auf solche un-
produktive Routinen zurückzuführen sind (Johnson et al. 2012; Cliff et al. 2011;
Cliff/Nothrop 2011). Um ein weiteres Beispiel anzuführen: Eine erste Analyse
des Flashcrashs von 2010 hatte nahegelegt, dass unproduktive algorithmische
Interaktionen dahinter gesteckt haben könnten. Der Begriff des Flashcrashs
bezeichnet einen kurzen aber rapiden Kurseinbruch, auf den eine ähnlich
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Titel
- Algorithmuskulturen
- Untertitel
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Autor
- Robert Seyfert
- Herausgeber
- Jonathan Roberge
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 242
- Schlagwörter
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Kategorie
- Technik