Seite - 30 - in Algorithmuskulturen - Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
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Jonathan Roberge und Robert
Seyfert30
nischen Feinheiten der Codes und Apparate, kurz ihrer technischen Funktio-
nalität widmen. Vielmehr muss sie den Komplex aus materiellen Kulturen,
technischen Apparaturen und Praktiken in den Blick nehmen. Aus diesem
Grund ist es problematisch, wenn sich aktuelle Forschungsprojekte zu Algo-
rithmen auf deren vermeintlich beunruhigende und suspekte Beschaffenheit
konzentrieren, die in Konferenztiteln wie »Die Tyrannei der Algorithmen«
(Washington, Dezember 2015) anklingt. Solche Perspektivierungen vernach-
lässigen nicht nur die ganz alltägliche Beschaffenheit der durch Algorithmen
hervorgerufenen Enttäuschungen, sondern auch die Dynamik zwischen Ver-
sprechung und Enttäuschung, die innerhalb algorithmischer Kulturen am
Werke ist. Solcherlei Forschungen verschmelzen das branchenspezifische
Imaginäre von Rationalität, Autonomie und Objektivität mit den konkreten
Praktiken. Sie verwechseln also die Versprechungen derjenigen, die diese
Systeme erstellen und vermarkten mit der Realität der Algorithmuskulturen.
An der Stelle, wo eine Analyse der ›Legitimation durch Performanz‹ inner-
halb algorithmischer Kulturen angebracht wäre, schließen sie mit einer Kritik
des Imaginären und seiner Effekte; und dies ganz ungeachtet der praktischen
Prozesse der Aktualisierung oder Nicht-Verwirklichung dieses Imaginären.
In ihrem bevorzugten Modus der Kritik fallen sie dem zum Opfer, was Mark
Nunes »eine kybernetische Ideologie« genannt hat, »die vom Erträumen einer
fehlerfreien Welt mit hundertprozentiger Effizienz, Genauigkeit und Vorher-
sagbarkeit getrieben ist« (Nunes 2011: 3). Da sie die Effektivität der Algorith-
men überschätzen und ihre Unordentlichkeit und ihre Dysfunktionalitäten
übersehen, nehmen solche kulturellen und sozialen Deutungen folgerichtig
auch den Charakter von Verschwörungstheorien an, in denen »verborgene Al-
gorithmen Geld und Daten lenken und kontrollieren« (Pasquale 2015).
Nun lassen sich solche verschwörungstheoretischen Einstellungen auf das
schiere Ausmaß der Mehrdeutigkeit zurückführen, das den algorithmischen
Kulturen inhärent ist. Algorithmische Praktiken, in denen wir Algorithmen
nutzen und gleichsam von ihnen benutzt werden, involvieren implizites Wis-
sen. Die meisten von uns nutzen Algorithmen täglich, wir lenken sie und wer-
den dabei von ihnen gelenkt. Und doch wissen die meisten von uns nur wenig
über die algorithmischen Codes, aus denen diese algorithmischen Assembla-
gen gefertigt sind. Eben dieses Nicht-Wissen lässt uns Unheimliches hinter
dem Bildschirm vermuten, wir vermuten oder erahnen etwas, das grundle-
gend verschiedenen ist von den Absichten und Vorhaben unserer humanen
Gefährten. Es ist gerade dieser Mangel an Information, der einige mensch-
liche Akteure dazu bringt, algorithmischen Aktivitäten eine Intentionalität zu
unterstellen. Man hat es hier häufig mit einer Haltung des generellen Ver-
dachts zu tun, einer Welthaltung, die Nathalie Heinich als »intentionalisti-
sche Hypothese« bezeichnet hat, und die einer »systematischen Reduktion
alles Tuns auf eine bewusste (vorzugsweise verdeckte und daher unlautere)
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Titel
- Algorithmuskulturen
- Untertitel
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Autor
- Robert Seyfert
- Herausgeber
- Jonathan Roberge
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 242
- Schlagwörter
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Kategorie
- Technik