Seite - 32 - in Algorithmuskulturen - Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
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Jonathan Roberge und Robert
Seyfert32
und SEC 2010a) mit dem zweiten am 30. September (CFTC und SEC 2010b)
veröffentlichten Bericht, zeigt sich schnell, dass der Fokus mit der Zeit zu-
nehmend auf die Rolle der menschlichen Akteure und ihrer Intentionen ge-
lenkt wurde. Macht der erste Bericht noch auf die Möglichkeit algorithmischer
Rückkopplungsschleifen aufmerksam, enthält der jüngste Bericht von 2015
überhaupt keine Hinweise auf algorithmische Interaktionen oder auf komple-
xe Rückkopplungsschleifen mehr. Stattdessen wird nun auf den in London an-
sässigen menschlichen Händler Navinder Singh Sarao verwiesen, der darüber
hinaus der einzige humane Akteur ist, der mit dem Ereignis in einen Zusam-
menhang gebracht wird (CTFC und SEC 2015a/b). Solche reduktionistischen
Erklärungen sind natürlich hoch umstritten. Erscheint es doch hinreichend
unwahrscheinlich, dass ein einzelner Händler einen solchen Einfluss auf
einen Billionen Dollar schweren Markt ausüben kann (Pirrong 2015). Sofern
seine Handlungen tatsächlich Auswirkungen auf den Flashcrash gehabt haben
sollten, dann, wie man vermutet, wohl eher in Form eines nichtintendierten
Schmetterlingseffekts, wie er in der Komplexitätstheorie entworfen wird (Fo-
resight 2012: 71f.).
Wie dieser langsame Übergang der Schuldzuweisung von algorithmi-
schen Interaktionen zu menschlichen Intentionen zeigt, ist die Interpretation
algorithmischen Fehlverhaltens stark abhängig von dem epistemologischen
Paradigma, in dem sich die Interpreten bewegen. Will sagen: Jede Deutung
rührt von einer bestimmten Form der Sinnproduktion her, was auch die Ins-
trumente miteinschließt, die zur Bewertung eines Ereignisses herangezogen
werden. Während Informations- und Medienwissenschaften, ebenso wenig
wie die STS, keine Probleme damit haben, neuen Phänomenen, die auf inter-
algorithmische Ereignisse zurückzuführen sind eine Handlungsträgerschaft,
Verantwortung und Haftung zuzuschreiben, binden politische Systeme (und
in diesem Falle auch Börsenaufsichtsbehörden) den Begriff der Verantwortung
(noch immer) an humane Akteure. Es ist nicht sonderlich gewagt zu behaup-
ten, dass das politische System selbst Druck auf die CTFC und SEC ausgeübt
hat, um einen verantwortlichen Akteur präsentieren zu können, der sich für
das Rechtsystem als operationalisierbar erweist. Algorithmen gehören freilich
(noch) nicht zu diesen. Wie wir sehen konnten, geht das Auftauchen der Al-
gorithmen mit der Verwischung zuvor klar definierter Linien einher, was eine
Atmosphäre der Unsicherheit hinsichtlich der Identitäten der jeweiligen inter-
agierenden Akteure schafft.
Daher lautet eine der wichtigsten Fragen innerhalb algorithmischer Kul-
turen: »zu wem sprechen wir?« (Gillespie 2014: 192). Auf allen Social-Media-
Plattformen muss die Nutzerin darauf vertrauen, dass sie mit ›echten‹ Nutzern
interagiert. Das ist für ökonomische Belange ganz besonders wichtig, zumal
hier die eindeutige Identifikation von Sendern und Empfängern innerhalb fi-
nanzieller Transmissionen unabdingbar ist. Ökonomische Operationen stüt-
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Titel
- Algorithmuskulturen
- Untertitel
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Autor
- Robert Seyfert
- Herausgeber
- Jonathan Roberge
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 242
- Schlagwörter
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Kategorie
- Technik