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Tarleton
Gillespie88
weise einen Künstler auf Spotify an: Der erste und prominenteste Vorschlag
besteht aus den fünf Songs, die Spotifys Messung zufolge am häufigsten
wiedergegeben wurden, allerdings in Abhängigkeit davon, wie neu die Mu-
sik ist – sprich, wir haben es mit einem Trending-Algorithmus zu tun. Diese
fünf Songs werden nicht nur mit höherer Wahrscheinlichkeit abgespielt als
andere, sie stellen auch eine Art und Weise dar, diesen Künstler zu entdecken
und zu bewerten. Hinzu kommt, dass Trends selbst-bestätigend sind: Wenn
man einen Themen-Trend auf Twitter anklickt, begegnet man einer Debatte,
die bereits im vollem Gange ist – ein viszeraler Beweis für die Popularität des
Themas ungeachtet allerdings anderer Themen die tatsächlich noch populärer
sind und ohne Rücksicht auch auf die Frage, welche Bevölkerungsgruppen an
diesem Trend beteiligt sind und welche nicht.
In Anbetracht der Tatsache, dass Trending-Algorithmen sich, wie gesehen,
einem sehr breiten Wer und einem sehr engen Wann widmen, könnte ihre
Form darüber hinaus die temporalen Eigenschaften des kulturellen Diskurses
beeinflussen. Freilich ist die Vermutung nicht neu, dass die Populärkultur,
und zumal die des Westens, von einem Prozess der Beschleunigung geprägt
ist. Nachrichtenkreisläufe, die Geschwindigkeit mit der Film- und Musikhits
auftauchen und verschwinden, die Viralität digitaler Kultur, all das deutet da-
rauf hin, dass unsere Gegenwartskultur Neuartigkeit und Präsentismus prä-
miert. Das Bestreben, einen neuen Trend zu setzen, erfordert es, das Spiel um
Ausdehnung und Geschwindigkeit mitzuspielen. Es geht darum, eine Debatte
auf exakt die Weise zum Anstieg zu bringen, die von einem Trendig-Algorith-
mus erkannt wird. Wir könnten hier etwas Ähnlichem beiwohnen wie beim
Auftauchen der Soundbites (Hallin 1992), einer ähnlichen Formung kulturel-
ler Praktiken, die sich zunehmend am Einfangen der Aufmerksamkeit von
Nachrichteninstitutionen durch Kürze ausrichtet. Powers (2015) argumentiert
ähnlich in ihrer Erörterung der »firsts« – ein Phänomen, bei dem Onlinekom-
mentatoren versuchen, als erste in einem Thread zu posten, völlig unabhängig
davon, ob sie etwas Relevantes beizutragen haben oder nicht. Diese besondere
»Metakultur« (Urban 2001, zit.n. Powers 2015) oder diese kulturelle Form von
Kultur stellt eine komplexe Kombination aus dem Streben danach Erster in der
Zeit, Erster auf einer Liste und ›Erster als Bester‹ zu sein dar – eine Kombi-
nation die auch andere Strukturen wie die ›Top 10‹, die ›Eilmeldung‹ und die
Soundbites umgreift. Es handelt sich hierbei um eine Kombination, die auch
den Trending-Algorithmen inhärent ist. Wie Beer und Burrows feststellen,
»handelt es sich um ein beschleunigtes und in gewisser Hinsicht vollkommen neues Set
an Organisations- und Beziehungsformen der Populärkultur, von dem wir bislang recht
wenig verstehen. Weder besitzen wir ein klares Verständnis der soziotechnischen Infra-
strukturen und Archive, die dieses Set gestalten und flankieren; noch wissen wir, wie
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Titel
- Algorithmuskulturen
- Untertitel
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Autor
- Robert Seyfert
- Herausgeber
- Jonathan Roberge
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 242
- Schlagwörter
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Kategorie
- Technik