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zur Distribution von Filmen und Musik – abhängig von einer Ökonomie öf-
fentlicher Güter, deren Fertigungskosten hoch und deren Distributionskosten
relativ niedrig sind. Genauso abhängig war sie freilich von einer stetigen Anti-
zipation der flatterhaften Geschmackspräferenzen der Öffentlichkeit. Dieweil
sie in Umfang und Ambition wuchs, suchte sie neue Methoden, den populären
Geschmack zu lesen und diese Präferenzen an das Publikum zurückzusen-
den.
Produzenten und Distributoren, die darauf erpicht waren, den populären
Geschmack zu antizipieren und zu prägen, wandten sich zunächst subjektiven
und impressionistischen Geschmacksformern zu: Diskjockeys, Buchrezen-
senten, Filmkritikern und Kulturreportern. Diese Evaluatoren des Populären
waren angewiesen auf eine Kombination aus persönlichem oder subjektivem
Scharfsinn, Expertise und auf die vorgebliche oder nachweisliche Fähigkeit,
den Puls der Zeit zu treffen. Die Tatsache, dass Twitter und andere Social-Me-
dia-Plattformen ihre Mechanismen als »Trends« bezeichneten, geht auf diese
Tradition des Trendsettings zurück: die Zeitschriften, die sich des Aufspürens
von Modetrends widmen; die DJs, mit einem Gespür für aufkommende neue
Musikgenres; die Unternehmensführung, mit einer Intuition für ›das nächste
große Ding‹. Heutzutage nehmen Blogger, Podcaster, die Gestalter von Play-
lists – und vielleicht wir alle (Maguire/Matthews 2012) – die Rolle der kulturel-
len Vermittler ein und tragen sie in das 21. Jahrhundert.
Für die Medienbranche erschienen diese willkürlichen Formen, die Öffent-
lichkeit zu deuten und deren Bedürfnisantizipation, zunehmend als ungenü-
gend und riskant. Sie hatten jedoch eine andere Möglichkeit zur Evaluierung
des Populären parat, zumindest, was ihre eigenen Produkte anging: »Simultan
zu der Entwicklung der Massenmedien um die Jahrhundertwende kam etwas
auf, was wir als Massenfeedback-Technologien bezeichnen könnten.« (Beniger
1989: 376) Die Unternehmen suchten nach immer elaborierteren Varianten
von Verkaufsdaten, das schloss Zirkulationszahlen von Zeitungen und Zeit-
schriften ebenso mit ein, wie die Verkaufszahlen an Abendkassen und die Zu-
hörer- und Zuschauerbewertungen von Film- und Radiosendungen (Napoli
2003). Einige der Facetten dieser Entwicklung sind der Industrialisierung des
Distributionsverfahrens selbst zuzurechnen, der Registrierung, wie Zeitun-
gen oder LPs vom Warenlager auf die Ladentheke kamen. Insbesondere An-
zeigenkunden waren an detaillierten Informationen über Publika interessiert,
die sie kauften; sie wollten objektivere Verfahren der Datenerhebung und eine
höhere Granularität (Ang 1991).
Dabei handelte es sich allerdings um keine leichte Angelegenheit. Es be-
durfte Jahrzehnte der Innovation zur Verfolgung von Verkaufs- und Zirkula-
tionsdaten auf nationaler und sogar globaler Ebene, um die Daten mit Demo-
graphien, Regionen und Genres sinnvoll in Verbindung zu setzen. Die ersten
Messtechniken waren plump. Wie Ang (1991) und Napoli (2003) anmerken,
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Titel
- Algorithmuskulturen
- Untertitel
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Autor
- Robert Seyfert
- Herausgeber
- Jonathan Roberge
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 242
- Schlagwörter
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Kategorie
- Technik