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3. #trendingistrending 95
telpunkt gegenwärtig geteilter Musikvorlieben, um den herum sich die Publi-
ka vereinten? Oder war sie das Produkt eines bereits sehr begrenzten Radiofor-
mats das sich zu sehr auf Hits konzentrierte? War sie trotz des Konservatismus
des Radioprogramms leistungsorientiert, hat sie neue Künstler eingeführt und
klassische musikalische Formen in Frage gestellt? Oder marginalisierte die
Show Genres wie Hiphop, Metal und Country, die eher mit der Arbeiterklasse
oder dem schwarzen Publikum assoziiert wurden? Machte sie den Kommerz
zur vorherrschenden Metrik, um den Wert der Musik zu messen? Oder hörte
sie den Fans vielleicht einfach besser zu, als es dies der Markt tun konnte?
Repräsentierte sie eine ›geteilte Kultur‹ um die Superstars der 1980er Jahre
(wie Michael Jackson und Madonna) oder war diese ›geteilte Kultur‹ nur ein
artifizielles Konstrukt der Billboard-Charts und der Show selbst, die angesichts
der Fragmentierung der Musik in den 1990ern bröckelte?
Die Debatten um die Beschaffenheit und den Wert ›des Populären‹ in der
Kultur gingen American Top 40 freilich schon voraus, ebenso wie sie über sie
hinaus gingen. Was bedeutet ›populär‹ im Sinne jeder dieser einzelnen Metri-
ken und was sollte es bedeuten? Schadet die Erweiterung und Vervielfältigung
des Populären der Kultur oder tun diese ihr gut? Solche Bedenken betreffen
American Top 40, die Billboard-Charts, die Geschichte der amerikanischen Ra-
dioformate ebenso wie die Struktur der Musikindustrie selbst. Was bedeutet
es, wenn kommerzielle Mechanismen das Populäre vermessen und beurtei-
len? Wenn uns Informationsvermittler das Populäre unterbreiten, handelt es
sich dann um die Widerspiegelung unserer Bedürfnisse oder die Fabrikation
derselben?
Wir können heutzutage ähnlich gelagerte Debatten über die Social-Media-
Plattformen und ihren Nutzen vernehmen, Debatten darüber, wie und mit
welchen Effekten die sozialen Medien das Populäre verstärken, erweitern und
zu uns zurückleiten. Seitdem es die sozialen Medien gibt, diskutieren wir dar-
über, ob die Informationen die sie übermitteln von hinreichender Bedeutsam-
keit sind oder nicht. In der abgedroschenen Twitter-Kritik »Mir ist egal, was
meine Freunde gefrühstückt haben«, hallen frühe Kritiken am Radio wider.
Ähnliche Klagelieder über die Effekte der sozialen Medien auf den modernen
Journalismus legen nahe, dass die politisch und zivilbürgerlich Gesinnten von
Narzissmus und Frivolität übertönt werden. In ihrer Kritik des Facebook-Al-
gorithmus fragte sich Tufekci (2015), was der Umstand bedeuten könnte, dass
während ihr Twitter-Account voll von Nachrichten und Kommentaren zu den
Protesten in Ferguson waren, ihr Facebook-Feed von Videos der Ice Bucket
berg: »Casey Kasem, Ronald Reagan and Music’s 1 percent: Artificial ›Popularity Is Not
Democracy‹«, in: Salon, 2. Juni 2014. www.salon.com/2014/06/22/casey_kasem_ro
nald_reagan_and_musics_1_percent_artificial_popularity_is_not_democracy/ (zu-
letzt aufgerufen am 26. Mai 2015).
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Titel
- Algorithmuskulturen
- Untertitel
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Autor
- Robert Seyfert
- Herausgeber
- Jonathan Roberge
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 242
- Schlagwörter
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Kategorie
- Technik