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ebenfalls muss gefragt werden, was geschieht, wenn Algorithmen als Kultur
aufgegriffen werden, wenn ihre spezifischen Arten von Behauptungen lesbar,
deutbar und strittig werden. Wir können weiterhin fragen, wie Algorithmen
prägen, was gesehen, privilegiert oder kategorisiert wird, wir können fragen,
wie sie möglicherweise diskriminieren oder Fehler begehen oder wie sie uns als
Daten behandeln und das menschliche Urteilsvermögen automatisieren. Wenn
Algorithmen jedoch soziale und kulturelle Aktivität begleiten, sollten wir zwei
Dinge nicht vergessen: Menschliche Aktivität ist öffentlich und algorithmische
Eingriffe sind es auch. Wie Giddens (1984) richtigerweise feststellte, ist unsere
wissenschaftliche Aufmerksamkeit für menschliche Aktivität anders gelagert
als unsere Aufmerksamkeit für natürliche Phänomene, weil Menschen wissen,
dass sie beobachtet werden und sich demgemäß verhalten, oftmals auch stra-
tegisch. Algorithmische Interventionen in menschliche Aktivität sind mit der
gleichen Herausforderung konfrontiert. Und wenn algorithmische Interventio-
nen in ihren Outputs, wenn nicht gar in ihrer Funktionsweise ebenso öffentlich
sind, dann werden auch sie beobachtet, berücksichtigt und strategisch ange-
fochten. Das wiederum bedeutet, dass die Arbeit der Algorithmen eine kulturel-
le ist und die Algorithmen selbst demnach nicht frei von Kultur sind.
Es könnte sein, dass es eine Weile gedauert hat, bis die Algorithmen selbst
zu kulturellen Objekten wurden, gerade weil sie lange Zeit für die gemeine
Praxis unsichtbar blieben. Als Google prominent wurde, kamen kulturelle Fra-
gen darüber auf, was es bedeutete Google zu nutzen, Google zu lieben, oder ob
Google objektiv war oder nicht – die Fragen wurden selbst Teil des kulturellen
Diskurses (Roberge/Melançon 2015). Google wurde zu einem Referenzpunkt
in informellen Gesprächen, zur Zielscheibe des Spotts, zu einem Verb. Aber
der Fokus lag hier auf der Webseite, dem Service oder vielleicht dem Unter-
nehmen, nicht speziell auf den Algorithmen. Gleichermaßen wurde Facebook
zu einem Referenzpunkt, als es bekannt und häufiger genutzt wurde – eine
Art Referenz, die in jedem Gespräch Platz zu haben scheint, vom Onlinele-
ben über das Verhalten von Studenten unserer Tage, bis hin zur leichten Ab-
lehnung hyperaktiver Teenager. Auf eine gewisse Weise domestizieren wir
Technologien immer (Silverstone 1994), indem wir sie in die Kultur und in
die Praxis hineinziehen und ihnen Bedeutungen zuweisen, die zumeist nur
in den besten Fällen in Beziehung mit ihrem konkreten Funktionieren oder
ihren Zwecken stehen. Wir zähmen sie indem wir über sie sprechen und ihnen
geteilte Bedeutungen zuweisen.
Nun sind auch Algorithmen in zweierlei Hinsicht sichtbarer und kulturell
bedeutsam geworden: zum einen als Kern der Funktionalität sozialer Medien
und zum anderen als Streitpunkt in jüngeren Kontroversen. Nicht nur begin-
nen wir darüber zu diskutieren, welche Resultate Google zurückbringt oder
welche Updates Facebook anscheinend privilegiert, sondern der Google-Al-
gorithmus und Facebooks Newsfeed-Algorithmus selbst werden bedeutsam.
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Titel
- Algorithmuskulturen
- Untertitel
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Autor
- Robert Seyfert
- Herausgeber
- Jonathan Roberge
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 242
- Schlagwörter
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Kategorie
- Technik