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ALJ 1/2016 Waldemar Hummer 2
I. Einführung
Es steht außer Zweifel, dass die Einführung des „Schengen“-Systems eine der größten Errungen-
schaften im Rahmen der europäischen Integration darstellt. Die Besicherung der Außengrenzen
und der gleichzeitige Wegfall der Binnengrenzen innerhalb des „Schengen“-Raumes hat nicht nur
den freien Personenverkehr, sondern auch den grenzüberschreitenden Übertritt aller Produktions-
faktoren in einem geschlossenen Binnenmarkt in einer Weise befördert, wie das im zwischen-
staatlichen Verkehr noch niemals der Fall war.
Nach einer über 30-jährigen mehr oder weniger ungestörten Praxis steht dieses System nunmehr
vor dem Zusammenbruch, wobei deren Gründungsväter sich den Grund von dessen Implosion
nicht einmal im Entferntesten vorgestellt haben dürften. Dass es einmal ein Massenzustrom von
Flüchtlingen sein würde, der das „Schengen“-System lahmlegen könnte, war außerhalb jedweder
Vorstellungskraft. Gerade weil man diese Ursache aber nicht bedacht und damit auch keine
Gegenstrategie zu deren Beseitigung entwickelt hat, stellen sich jetzt die Konsequenzen eines
eventuellen Scheiterns des „Schengen“-Systems so dramatisch dar.
Auf der anderen Seite kann man aber weder die Schengen-Staaten, noch die Europäische Kom-
mission, von der Verantwortung freisprechen, die politischen und geostrategischen Rahmenbe-
dingungen, in die das „Schengen“-System eingebunden ist, nicht richtig beurteilt und vorhergese-
hen zu haben. Die innenpolitischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in den nordafrikanischen
und vorderasiatischen Anrainerstaaten des Mittelmeerbeckens hätten zumindest eine voraus-
schauende Lageanalyse erfordert, inwieweit bei einem Kollabieren von deren fragilen Staatsge-
walten oder der Ausweitung lokaler Bürgerkriegsaktivitäten nicht eine größere Flüchtlings- und
Migrationsbewegung auf die südlichen Mitgliedstaaten der EU zukommen würde. Bereits einige
Jahre vor dem Ausbruch des „Arabischen Frühlings“ Mitte Dezember 20104 haben die Probleme
in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla sowie in Gibraltar, ganz allgemein aber auf den
spanischen Inseln im Mittelmeer und im Atlantik, diesbezüglich eindeutige Hinweise darauf
gegeben, denen aber nicht entsprechend Rechnung getragen wurde.
Es ist heute leider nicht mehr bekannt, mit welchen Mitteln Spanien damals die Massenflucht von
Westafrika aus auf seine Küsten zu – sehr zur Überraschung auch kundiger Beobachter der Szene –
letztlich eindämmen und fast ganz zum Versiegen bringen konnte. Spanien bediente sich einer
perfiden, klandestinen und sehr effizienten Methode, nämlich der massiven Bestechung der
lokalen Behörden und „Kaziken“, um die Migranten und Flüchtlinge überhaupt daran zu hindern,
in See zu stechen. Man hatte damals, spät aber doch erkannt, dass man das Problem bereits an
der Wurzel, dh am Beginn des Fluchtweges, bekämpfen müsse, und nicht erst dann, wenn die
Flucht bereits angetreten wird und sich die Flüchtlingsboote kurz vor dem Eindringen in die
Hoheitsgewässer Spaniens befinden. Diese Vorgangsweise verursachte nämlich einen enormen
Überwachungs- und Interzeptionsaufwand, der noch dazu in der Regel weder völkerrechts- noch
unionsrechtskonform durchgeführt wurde, und daher auch stets der Kritik ausgesetzt war.
Wenngleich diese Methode wahrlich nicht das korrekteste Vorgehen zur Eindämmung des Flücht-
lingsstroms war, war sie extrem effizient und brachte die Flucht von afrikanischen „boat people“
nach Spanien beinahe zum Erliegen. Von findigen Journalisten wird dieses Modell neuerdings
auch für die Türkei, Ägypten und ein hoffentlich bald stabilisiertes Libyen empfohlen: „Man wird
4 Vgl dazu Ben Jelloun, Arabischer Frühling: vom Wiedererlangen der arabischen Würde (2011).
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Austrian Law Journal
Band 1/2016
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 1/2016
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 110
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal