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ALJ 2019 Entlastungswirkung der hypothetischen Kausalität 21
einige Grundsätze der Entlastungswirkung der hypothetischen Kausalität aufgezeigt werden. Der
Fokus wird dabei, im Anschluss an die erwähnte höchstgerichtliche Entscheidung, auf die bisher
weniger beachtete Kausalitätsprüfung einer Unterlassung9 gerichtet.10
III. Die hypothetische Kausalität – Versuch einer Begriffsklärung
Eine griffige und einheitlich verwendete Definition des Begriffes der hypothetischen Kausalität
sucht man in der Literatur und Judikatur vergebens.11 In diesem Beitrag wird „hypothetische Kau-
salität“ in einem weiten Sinne verstanden. Von hypothetischer Kausalität soll demzufolge dann die
Rede sein, wenn sich eine Ursache zwar nicht unmittelbar verwirklichen konnte, sie aber fĂĽr die
Kausalitätsprüfung dennoch von Relevanz sein soll. Die Hypothese besteht darin, zu fragen, wie
sich die Dinge unter Einbeziehung eines nicht völlig verwirklichten oder gänzlich erfundenen Ereig-
nisses weiterentwickelt hätten. Der Sachverhalt wird gewissermaßen mit der Hilfe einer Hypothese
zu Ende gedacht. Gängig ist diese Vorgehensweise, wenn mehrere reale Ereignisse den Schaden
nacheinander – wie im Eingangsbeispiel – herbeigeführt hätten.12 Als Anwendungsfälle der hypo-
thetischen Kausalität werden hier neben der überholenden Kausalität aber auch die Kausalität der
Unterlassung und das rechtmäßige Alternativverhalten verstanden.13
A. Überholende Kausalität
Vielfach werden die Begriffe hypothetische Kausalität und überholende Kausalität synonym ver-
wendet.14 Wie das eingangs geschilderte Lehrbuchbeispiel zeigt, fĂĽhrt bei der ĂĽberholenden Kau-
salität ein Ereignis den Schaden real herbei, ein anderes, ebenso reales Ereignis hätte aber später
denselben Schaden verursacht, wenn die erste Bedingung sich nicht schon zuvor verwirklicht
9 In Österreich wird nach hA ein Kausalitätsbegriff verwendet, der über das rein naturwissenschaftlich-logische Ver-
ständnis hinausgeht. Das ist vor allem im Hinblick auf die Kausalität einer Unterlassung von Bedeutung. Eine Un-
terlassung könnte nach den „Naturgesetzen“ keine Veränderung eines Zustandes herbeiführen und damit auch
nie kausal sein. Dazu aus jüngerer Zeit Riss, Hypothetische Kausalität, objektive Berechnung bloßer Vermögens-
schäden und Ersatz verlorener Prozesschancen, JBl 2004, 423, auch Fn 7; Geroldinger, Der mutwillige Rechtsstreit
(2017) 107 ff F. Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung 3 ff; rechtsvergleichend zeigt Spindler, AcP 208
(2008), 283 (288), dass Kausalität als eine normative Kategorie zu begreifen sei, die die Zuweisung von Haftungsri-
siken bezwecken soll; Schulin, Der natürliche – vorrechtliche – Kausalitätsbegriff im zivilen Schadensersatzrecht
(1976) 132 ff; Wagner in Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 6 (2017)7 § 823 BGB, Rn 69
hält für das Haftungsrecht keinen naturwissenschaftlich-logischen, sondern einen pragmatischen Kausalitätsbe-
griff fĂĽr maĂźgeblich, nach dem als Ursache die menschliche Intervention gilt, die den Normalverlauf der Dinge
verändert hat bzw verändert hätte; vgl Hart/Honoré, Causation in Law238.
10 Siehe dazu grundlegend Rebhahn, Staatshaftung wegen mangelnder Gefahrenabwehr (1997) 643 ff; Koziol, Weg-
denken und Hinzudenken bei der Kausalitätsprüfung, RdW 2007, 12.
11 Siehe dazu jüngst OGH 28.2.2018, 6 Ob 234/17f: „Unter dem Oberbegriff der „hypothetischen Kausalität“ (auch:
„Reserveursache“) werden ganz unterschiedliche Konstellationen zusammengefasst“; Oetker in Münchner Kom-
mentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 2 (2016)7 § 249 BGB Rn 207 und 217; zum Begriff der hypothetischen
Kausalität grundlegend: Niederländer, Schadensersatz bei hypothetischen Schadensereignissen, AcP 153 (1954),
41 (42; 50); ebenso Niederländer, Hypothetische Schadensereignisse, JZ 1959, 618; Schobel, Hypothetische Verur-
sachung, Aliud-Verbesserung und Schadensteilung, JBl 2002, 771 (775) FN 11; Gebauer, Hypothetische Kausalität
3 ff; Apathy, Zur Haftung bei überholender Kausalität, in FS Koziol (2010) 515 ff; Schulin, Der natürliche – vorrecht-
liche – Kausalitätsbegriff im zivilen Schadenersatzrecht 170 ff.
12 F. Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung 7; Koziol, Ă–sterreichisches Haftpflichtrecht I3 Rz 3/58; Kleewein,
Hypothetische Kausalität und Schadensberechnung (1993) 7; Gebauer, Hypothetische Kausalität 5; vgl Spindler,
AcP 208 (2008) 283, 286.
13 Vgl Oetker in MüKo/BGB7 § 249 Rn 217; Katzenmeier in BeckOK/BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck (2018) § 630 h
BGB Rn 41; Riss, JBl 2004, 423.
14 Statt vieler Rebhahn, Staatshaftung 643 ff.
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Austrian Law Journal
Band 1/2019
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 1/2019
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 126
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal