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ALJ 2019 Entlastungswirkung der hypothetischen Kausalität 25
wäre.37 Selbst eine minimale zeitliche Abweichung führt allerdings – nach einer weitverbreiteten
Ansicht – zu einer anderen Lösung des Kausalitätsproblems: Anders als bei der kumulativen Kau-
salität, soll es durch die überholende Kausalität nicht zu einer solidarischen Haftung beider Schä-
diger kommen. Reale Kausalität geht demnach der hypothetischen Verursachung vor.38 Haften soll
derjenige, der den Schaden wirklich herbeigeführt hat. Spätere hypothetische Ereignisse sind auch
in den Augen der Rechtsprechung dem Grundsatz nach unbeachtlich.39 Der hypothetische Schädi-
ger haftet nicht, weil er den Schaden nicht verursacht haben kann.40
Das Prinzip der Irrelevanz von hypothetischen Ereignissen wird dessen ungeachtet bei einer sehr
bedeutenden Gruppe, den sogenannten Anlageschäden, durchbrochen.41 Derselbe Schaden wäre
hier ohnehin aufgrund einer Veranlagung – beispielsweise einer Vorerkrankung des Geschädigten
– zeitlich versetzt eingetreten. Das beeinträchtigte Rechtsgut trug demnach den Schadenskeim be-
reits in sich, der später zur Zerstörung oder Beschädigung geführt hätte. Dies soll dem Schädiger
zugutekommen.42 Er hat nur den durch die Vorverlagerung des Schadenseintritts entstehenden
Nachteil zu ersetzen.43
Die hypothetische Ursache gewinnt somit in einer Vielzahl von Fällen an Relevanz. Dabei ver-
schwimmt die Grenze zur überholenden Kausalität – bei der die Reserveursache grundsätzlich un-
beachtlich sein soll – zusehends. Dies und die aufgezeigte Nähe zur kumulativen Kausalität haben
zu differenzierteren Perspektiven auf die überholende Kausalität in der Literatur geführt.44
2. Schadensberechnung
Die vorherrschende Lehre in Österreich löst das Problem der überholenden Kausalität auf der Ba-
sis der zwei Schadensbegriffe45, die dem ABGB zugrunde liegen.46 Bei objektiv-abstrakter Scha-
densberechnung stellt die überholende Kausalität gar kein Problem dar. Relevant ist dabei allein
37 Koziol, HPR I3Rz 3/58; Karner in KBB5 §1302 Rz 9.
38 Statt vieler Reischauer in Rummel, ABGB3 §1302 Rz 14.
39 RIS-Justiz RS0022653: „Der Umstand, dass ein Schade mehr oder weniger wahrscheinlich auch ohne die schaden-
bringende Handlung eingetreten wäre, und selbst der Umstand, dass der Beschädiger durch seine Tat den Be-
schädigten vielleicht vor einem nicht mit seiner Tat im Zusammenhang stehenden Schaden bewahrt hat, vermag
die Schadenersatzpflicht des Beschädigers nicht aufzuheben.“; RIS-Justiz RS0022634; vgl aus der Lehre statt vieler
Ehrenzweig, System I/2, 4; Wolf in Klang VI2 10; Reischauer in Rummel, ABGB3 §1302 Rz 14 ff; Niederländer AcP 153
(1954), 41 (50); dagegen Kleewein, Hypothetische Kausalität 87 ff; kritisch jüngst Trenker, ÖJZ 2013, 2 Fn 31; Apathy
in FS Koziol 515 ff weist darauf hin, dass der Standpunkt des OGH keineswegs immer so eindeutig und dezidiert
wäre, wie gemeinhin angenommen wird. In diesem Zusammenhang zeigt er auf, dass die reale Kausalität in Wahr-
heit auch nur eine hypothetische Kausalität sei. Auch nach Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 1302
Rz 57 sei der Standpunkt des OGH keineswegs so klar.
40 Sehr klar formuliert diesen Grundgedanken Larenz, Schuldrecht I14 527: „Es ist m.E. nicht darum herumzukommen,
daß im Falle nur hypothetischer Kausalität der für das hypothetische Ereignis Verantwortliche den schon vorher
eingetretenen Schaden eben nicht wirklich verursacht hat.“; siehe dazu aus österreichischer Perspektive
Reischauer in Rummel, ABGB3 §1302 Rz 14 ff.
41 RIS-Justiz RS0022678; Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 1302 Rz 57 wirft bereits Zweifel daran
auf, dass der OGH konsequent nur von einer Haftung des realen Schädigers ausgeht; Reischauer in Rummel,
ABGB3 § 1302 Rz 15.
42 Wendehorst, Ausgleich und Anspruch 128.
43 F. Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung 99 f; Karner in KBB5 § 1302 Rz 10.
44 Vgl schon F. Bydlinski, JBl 1967, 130 (136) zur Rsp in Deutschland siehe Wendehorst, Ausgleich und Anspruch 128
ff; Gebauer, Hypothetische Kausalität 391 f.
45 Siehe zur Problemstellung und zum Meinungsstand bei der Schadensberechnung: Kodek, Abstrakte Schadensbe-
rechnung – Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung, in FS Danzl (2017) 116 (117 ff).
46 Grundlegend F. Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung 28 ff; Koziol, HPR I3Rz 3/67ff; aA Reischauer in
Rummel, ABGB3 §1302 Rz 14 mit der Begründung, dass die abstrakte Schadensberechnung kein Prinzip unserer
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Austrian Law Journal
Band 1/2019
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 1/2019
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 126
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal