Seite - 188 - in Austrian Law Journal, Band 2/2015
Bild der Seite - 188 -
Text der Seite - 188 -
ALJ 2/2015 Ausgleich von Personenschäden 188
an der französischen Tendenz einer ausufernden Abnahme jeglichen Risikos einer Schädigung
nur fĂĽr die rein schadenersatzrechtliche Perspektive Geltung habe, nicht aber die vertraglichen
Versicherungen und die Sozialversicherungssysteme betreffe. Diese Verlagerung von der ausglei-
chenden zur austeilenden Gerechtigkeit entspreche – so Moréteau – in Frankreich der weitgehend
akzeptierten Auffassung, dass es fĂĽr die Gesellschaft besser sei, wenn deren Mitglieder ent-
sprechend einem solidarischen Modell die Risiken gemeinsam tragen. Im französischen Recht
wird dementsprechend versucht, die den Solidaritätsgedanken umsetzende Absicherung der
Risiken durch die auĂźerhalb des Schadenersatzrechts bestehenden Systeme der vertraglichen
Schadensversicherung und der sozialen Versicherung zu erreichen. Diese sehen jedoch – abge-
sehen vom Bereich der Schädigung von Arbeitnehmern durch den Arbeitgeber5 – Rückgriffs-
rechte gegen den verantwortlichen Schädiger vor6, sodass insofern keine Entlastung des Täters
erfolgt. Wichtig für das Verständnis dieses Systems ist die – den Schadenersatzrechtler natürlich
schmerzende – Feststellung, dass „aus französischer Sicht zumindest in der Praxis zivilrechtliche
Haftung nicht mehr ein zentrales, sondern nur mehr ein marginales Instrument darstellt“.7 Be-
deutsam ist ferner der Hinweis8, dass in Frankreich dem Schadenersatzrecht nicht primär die
Aufgabe der Prävention beigelegt wird, diese Funktion vielmehr immer stärker dem Strafrecht
zugedacht wird. Damit sind Grundfunktionen des Schadenersatzrechts und das Zusammenspiel
mit anderen Rechtsgebieten angesprochen, wobei bemerkenswerte Unterschiede zum deut-
schen Rechtskreis feststellbar sind.
III. Das skandinavische System
Das skandinavische Recht geht bei der Berücksichtigung der Interessen des Geschädigten noch
über das französische hinaus. Wie Askeland9 hervorhebt, beruhe zwar auch das norwegische
Schadenersatzrecht auf dem Grundsatz „casum sentit dominus“, doch habe der Gedanke der
austeilenden Gerechtigkeit verbreitet Zustimmung gefunden und jenen der ausgleichenden
Gerechtigkeit immer mehr zurückgedrängt: In erster Linie sei es wichtig, dass das Opfer vollen
Ersatz erhalte. Zweitens werde es weitgehend als gerechtfertigt angesehen, dass jener, der den
Schaden verursacht hat, diesen auch zu ersetzen habe – was wohl zu einer sehr großzügigen
Zurechnung führt, unter anderem durch Ausdehnung verschuldensunabhängiger Haftungen.
Für eine sehr breite Abdeckung der Personenschäden – nicht jedoch der sonstigen Schäden –
haben in Skandinavien in jĂĽngerer Zeit neben dem Schadenersatzrecht auch noch Versicherungs-
lösungen und das soziale Sicherheitsnetz gesorgt. Verstärkt wird der Schutz der Geschädigten
ĂĽberdies durch einen Ausbau der obligatorischen Haftpflichtversicherungen, wodurch das Risiko
der Undurchsetzbarkeit der ErsatzansprĂĽche weitgehend beseitigt wird10, was wiederum dem
Opfer zugutekommt.
5 Siehe G’sell/Veillard, Employers’ Liability and Workers’ Compensation: France, in Oliphant/G. Wagner (Hrsg), Employ-
ers’ Liability and Workers’ Compensation (2012) 203 (224, 229 f): Die sog „Workers’ compensation institutions“
haben einen Rückgriffsanspruch gegen den Arbeitgeber lediglich bei grob schuldhaftem oder bei vorsätzlichem
Verhalten.
6 Moréteau in Koziol Rz 1/54.
7 Moréteau in Koziol Rz 1/13.
8 Moréteau in Koziol Rz 1/7 und 1/68.
9 Askeland, Norwegen, in Koziol (Hrsg), Grundfragen des Schadenersatzrechts aus rechtsvergleichender Sicht
(2014) Rz 2/2.
10 Beck, Das patchworkartige System der Haftpflicht-Versicherungsobligatorien, in Fuhrer/Chappuis (Hrsg), Liber
amicorum Roland Brehm (2012) 1; Merkin/Steele, Insurance and the Law of Obligations (2013) 256.
zurĂĽck zum
Buch Austrian Law Journal, Band 2/2015"
Austrian Law Journal
Band 2/2015
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 2/2015
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 100
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal