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ALJ 2/2015 Andreas J. Kumin 263
Und doch fehlt noch der Schlussstein für die Grundrechtearchitektur der EU: die vollwertige Teil-
nahme aus eigenem Recht und im eigenen Namen an den durch den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte in Straßburg gebotenen Überprüfungsmechanismen zur Einhaltung der in
der EMRK gewährleisteten Rechte. Konnte der EuGH in seinem Gutachten 2/9410 Mitte der 1990er
Jahre noch das Fehlen einer Rechtsgrundlage für einen solchen Beitritt bemängeln und darin eine
Überspannung sozusagen des Verfassungsbogens der Union erkennen, so ist heute mit Art 6 EUV
und Protokoll 8 nicht nur die Möglichkeit, sondern auch der primärrechtliche Auftrag an die Europä-
ische Union zum EMRK-Beitritt außer Streit gestellt.
Der derart angestoßene Beitrittsprozess befindet sich mehr als fünf Jahre nach Schaffung der
Rechtsgrundlage dafür in Form der zuvor genannten Bestimmungen durch das Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon gegenwärtig allerdings in einem besonders heiklen Stadium. In seinem Gut-
achten 2/13 vom 18. Dezember 2014 hat der EuGH nämlich festgestellt, dass der im Rahmen des
Europarats zwischen den 47 gegenwärtigen Vertragsparteien und der EU ausverhandelte Entwurf
für ein Beitrittsabkommen in zehn Punkten mit den EU-Gründungsverträgen nicht im Einklang
steht. Damit hat er das Ziel des Beitritts vorerst vielleicht in weite Ferne gerückt, wenn nicht sogar
grundsätzlich in Frage gestellt. Nur unter Ausübung einer auf universitärem Boden sonst nicht
gebotenen, gewissermaßen diplomatischen Zurückhaltung gelingt es mir daher, das Ergebnis, zu
dem der Gerichtshof in seinem Gutachten gelangt, lediglich als höchst unerfreulich zu bezeichnen.
Er verkennt bei seinem durchaus verständlichen Bemühen, die Autonomie und die Besonderhei-
ten des Unionsrechts sowie seine eigenen Prärogative zu wahren, zweierlei: Erstens, dass just die
von ihm kritisch beurteilten Aspekte des Beitrittsabkommens im Zentrum schwieriger Kompro-
missfindungen gestanden haben, und zwar sowohl innerhalb der Union als auch zwischen der
Union und ihren Verhandlungspartnern im Europarat. Und zweitens wird er mit seinen noch viel
weitergehenden Forderungen – wie ich meine – einer systemkonformen Deutung seiner Rolle und
des primärrechtlichen Beitrittsauftrags an die EU nicht gerecht. Als Unionsorgan ist nämlich auch
der Gerichtshof gemäß Art 13 EUV dem unionsrechtlichen Loyalitätsgebot sowohl der Verhand-
lungsführerin Kommission als auch den Mitgliedstaaten gegenüber verpflichtet. Ich hätte mir
daher erwartet, dass er stärker bestrebt ist, unweigerlich auftretende normative Spannungen
durch seine vermittelnde Interpretation und durch das Aufstellen erfüllbarer Bedingungen zu
verringern. Stattdessen hat er selbst erst gewisse konzeptuelle Hindernisse neu geschaffen, beste-
hen doch manche der vom Gerichtshof herausgearbeiteten Spannungen zum Unionsrecht für die
EU-Mitgliedstaaten nicht erst mit einem zukünftigen Beitritt der EU zur EMRK, sondern auch jetzt
schon. Ein letztlich auch nicht unproblematisches „Ja, aber“, wie es die Generalanwältin in ihrer
Stellungnahme ausgesprochen hat11, anstelle des recht deutlichen „Nein, nein und nochmals
nein, weil“ stünde übrigens auch mit einem weiteren wichtigen Auslegungsgrundsatz des Unions-
rechts im Einklang: einer Deutung im Sinne des „effet utile“ jener Vorgaben in den Primärrechts-
bestimmungen, die eine ebensolche vermittelnde Lesart nahelegen oder zumindest zulassen.
10 Gutachten des EuGH 2/94 vom 28. 12. 1996.
11 Stellungnahme der Generalanwältin Juliane Kokott vom 13. 6. 2014 im Gutachtenverfahren 2/13.
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Austrian Law Journal
Band 2/2015
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 2/2015
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 100
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal