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ALJ 2/2015 Geschworenengerichte – unbegründete Sorge? 270
richtsbarkeit mit dem kaiserlichen Patent vom 7. September 1848 und der österreichischen
Reichsverfassung vom 4. März 1849, die Einführung des Anklageprozesses, die Mündlichkeit
und Öffentlichkeit des Strafverfahrens und die freie Beweiswürdigung.
II. Der Fall Taxquet gegen Belgien als Auslöser neuerlicher Diskussion
in Österreich
A. Sachverhalt und Begründung des Urteils des EGMR6
Im Oktober 2003 wurde Richard Taxquet (Bf) im sogenannten Cools-Prozess zusammen mit sieben
weiteren Personen wegen des im Jahr 1991 an einem Minister begangenen Mordes und versuchten
Mordes an dessen Partnerin vor das Geschworenengericht Liege gestellt. Er selbst brachte keine
Klageerwiderung ein, da er sich mangels Kenntnis der ihn belastenden Beweise nicht dazu in der
Lage sah. In der Anklageschrift wurde ausgeführt, dass eine vom Bf als anonymer Zeuge bezeich-
nete Person 1996 den Ermittlern bestimmte Informationen zukommen habe lassen. Vom Unter-
suchungsrichter wurde diese nie befragt. In der Verhandlung vor dem Geschworenengericht
gaben die Ermittler an, beim Informanten handle es sich um keinen der Angeklagten und er habe
die Taten nicht selbst beobachtet. Den Informationen zufolge war die Ermordung des Ministers
von sechs Personen, darunter dem Bf, geplant worden. Ein Antrag auf Vernehmung des Infor-
manten wurde abgelehnt, da dessen Identität dem Gericht nicht bekannt und eine Befragung für
die Wahrheitsfindung nicht hilfreich sei.
Den Geschworenen wurden vom Präsidenten des Gerichtes 32 Fragen gestellt. Vier davon betrafen
den Bf und lauteten im Wesentlichen darauf, ob der Bf schuldig sei, den Minister wissentlich und
willentlich getötet zu haben; ob diese Tat – im Sinne eines erschwerenden Umstandes – geplant
war; ob der Bf schuldig sei, wissentlich und willentlich einen Mordversuch an der Partnerin des
Ministers begangen zu haben; sowie, ob auch letztere Tat geplant war. Die Geschworenen beant-
worteten alle vier Fragen mit „Ja“.
Am 7. Jänner 2004 verurteilte das Geschworenengericht den Bf zu zwanzig Jahren Haft. Die vom
Bf dagegen erhobene Revision wurde vom Kassationsgericht am 16. Juni 2004 zurückgewiesen.
Das Gericht befand unter anderem, dass Art 6 EMRK die Geschworenen nicht dazu verpflichte,
ihre Antworten zu begründen. Den Revisionsgrund betreffend, die Verurteilung des Bf sei maß-
geblich auf die Aussage eines anonymen Informanten gestützt worden, stellte das Kassationsge-
richt fest, dass das Unterbleiben von dessen Ausforschung und Befragung nicht gegen das Recht
des Bf verstoßen habe, die im Verfahren vorgelegten Beweise zu widerlegen und Belastungszeugen
zu befragen.
2006 gab einer der Mitangeklagten des Bf in einer Fernsehsendung bekannt, der anonyme Infor-
mant gewesen zu sein, der als Mittelsmann für einen weiteren Mitangeklagten gehandelt habe. Die
Identität des anonymen Zeugen wurde vom Justizminister in der Sendung bestätigt.
Am 13. Jänner 2009 kam der EGMR zum Ergebnis, dass das Urteil des Geschworenengerichtes in
Ermangelung einer ausreichenden Begründung gegen das Gebot des „fair trial“ gem Art 6 EMRK
verstößt.7
6 EGMR 16. 11. 2010 (GK), 926/05, Taxquet/Belgien.
7 Siehe dazu ausführlich Rueprecht, EGMR ändert Rechtsprechung: Auch geschworenengerichtliches Urteil ohne
Begründung verstößt gegen Art 6 MRK, JSt 2009, 123.
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Austrian Law Journal
Band 2/2015
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 2/2015
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 100
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal