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ALJ 2/2015 Thomas Mühlbacher 271
Die bisherige ständige Judikatur des Gerichtshofes war dahin gegangen, dass gerichtliche Ent-
scheidungen in ausreichender Weise die Gründe, auf denen sie basieren, enthalten müssen, der
Umfang dieser Verpflichtung jedoch je nach der Art der Entscheidung im Einzelfall variieren könne.
Der EGMR erinnerte daran, dass im Fall Zarouali gegen Belgien8 sowohl die Kommission als auch
der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Fragen und deren Beantwortung
„einen Raster darstellen, auf dem das Urteil basiert“, und dass die „Genauigkeit dieser Fragen,
das Fehlen der Begründung der Antworten“ (l’absence de motivation des reponses) kompensiert.
Jedoch habe sich seit dem Fall Zarouali eine Veränderung bemerkbar gemacht, und zwar sowohl
in der Rechtsprechung des Gerichtshofes als auch in der Gesetzgebung der Vertragsstaaten.9 Die
„Begründung der gerichtlichen Entscheidungen“ (motivation des decisions de justice) sei eng ver-
knüpft mit dem Bemühen um ein faires Verfahren und bilde als unentbehrlicher Bestandteil der
Rechtsprechung ein Bollwerk gegen Willkür.
Knappe Antworten auf vage gefasste Fragen können den Eindruck einer willkürlichen und wenig
durchschaubaren Justiz vermitteln. Ohne wenigstens ein Resümee der wesentlichen Gründe
dafür zu erfahren, warum die Geschworenen erklärt haben, von seiner Schuld überzeugt zu sein,
konnte der Bf das Urteil nicht verstehen, geschweige denn akzeptieren. Unter Berücksichtigung
des Umstandes, dass die Geschworenen nicht auf Grund des Aktes, sondern aufgrund dessen,
was sie in der Verhandlung gehört haben, entscheiden, ist dies von besonderer Bedeutung. Folglich
sei es wichtig, dem Angeklagten, aber auch dem „Volk“ in dessen Namen das Urteil ergeht, die
Erwägungen darzulegen und die genauen Gründe für die Beantwortung einer Frage mit „Ja“ oder
„Nein“ anzugeben.
Unter den gegebenen Umständen war die Cour de cassation nicht in der Lage, ihre Kontrolle
wirksam auszuüben und beispielsweise eine mangelhafte oder widersprüchliche Begründung zu
erkennen.
Wegen der fundamentalen Bedeutung dieser Entscheidung beantragte die belgische Regierung
eine endgültige Entscheidung der Großen Kammer des EGMR. Unabhängig davon beschloss das
belgische Parlament aber bereits am 29. Oktober 2009 eine seit Jahren ohnehin geplante Neure-
gelung des gesamten Geschworenenverfahrens, durch die unter anderem die Begründungs-
pflicht für den Wahrspruch der Geschworenen eingeführt wurde.10
Die Entscheidung der Großen Kammer vom 16. November 2010 löste das Problem dahingehend,
dass einerseits zwar festgestellt wurde, dass der Bf im konkreten Fall durch das Fehlen der Begrün-
dung in seinem Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 EMRK verletzt wurde, weil er im
Ergebnis über keine ausreichenden Garantien verfügte, die es ihm ermöglicht hätten, zu verstehen,
warum er für schuldig befunden wurde; andererseits sah der EGMR aber keinen Anlass, das Jury-
system, das keine Begründung des Urteils verlangt, grundsätzlich in Frage zu stellen. Es handle
sich um eines der vielen Beispiele der Mannigfaltigkeit der in Europa existierenden Rechtssysteme;
es sei nicht Aufgabe des Gerichtshofes diese zu vereinheitlichen. Die Vertragsstaaten genießen
8 EGMR 29. 6. 1994, 20664/02, Zarouali/Belgien.
9 Beispielhaft erwähnt der Gerichtshof Frankreich, das eine zweite Instanz bei den „proces en assises“ einführte
und die Begründung der Urteile ausgestaltete.
10 Siehe dazu ausführlich Moos, JBl 2010, 73; sowie Rueprecht, Einige internationale Reaktionen auf das Urteil des
EGMR im Fall Taxquet gegen Belgien, JSt 2010, 97.
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Austrian Law Journal
Band 2/2015
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 2/2015
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 100
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal