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ALJ 2/2016 Christoph Bezemek 112
deutsche Grundgesetz, nach dessen Art 2 sub titulo „Allgemeine Handlungsfreiheit“ das Tauben-
füttern,19 das Reiten im Walde20 und auch der Drogenkonsum21 prima facie verfassungsrechtli-
chen Schutz genießen,22 enthält die österreichische Bundesverfassung eben kein ausdrückliches
Recht, „sich nach eigenem Belieben zu verhalten“;23 was insgesamt kein bloßer Partikularismus
der österreichischen Rechtsordnung im Verhältnis zur deutschen oder zur französischen ist, son-
dern Ausdruck der Idiosynkrasien, die eigenständige Rechtsordnungen auszeichnen, auch wenn
sie in Anbetracht zahlreicher evidenter Gemeinsamkeiten mit anderen erst bei hintergründiger
Betrachtung zu Tage treten.24
IV. Defizienz qua Differenz?
Und doch folgt aus diesem Befund nicht, dass die so ausgemachte Differenz notwendig auch
Anzeichen von Defizienz ist. Oder anders: dass eine umfassende negative Freiheit als Möglichkeit
selbstbestimmter Entfaltung,25 wie Mill sie im Anschluss an Humboldt postuliert hat,26 eben eine
„persönliche Autonomie, [ein] Recht, Entscheidungen bezüglich des eigenen Lebens ohne Einmi-
schung des Staates zu treffen“,27 der österreichischen Verfassungsordnung dem Grunde nach
fremd ist.
Franz Merli hat sich vor über 20 Jahren dieser Frage angenommen28 und vielleicht bietet der Aus-
gangsfall einen guten Anlass, diese Diskussion aus verfassungsrechtlicher Perspektive erneut
aufzunehmen; wenn auch mit Hilfe thesenhafter Zuspitzungen, die in ihrem vordergründigen
Widerstreit eine dialektische Entfaltung des Themas ermöglichen sollen.
V. Thesen
A. Subtraktion
Aber schon mit der ersten dieser Thesen, man mag sie als „Subtraktionsthese“ bezeichnen, kann
man aus rechtstheoretischer Perspektive einwerfen, dass die Antwort auf die Frage, ob eine be-
stimmte Rechtsordnung denn gewährleistet, „etwas nach seinem Belieben zu thun oder zu unter-
lassen“,29 gleichermaßen naheliegend wie banal ist. Bereits Thomas Hobbes hat in seinem Levia-
than prominent festgehalten, dass doch die größte Freiheit der Rechtsunterworfenen zuverlässig
in der Silence of the Law, im Schweigen des Gesetzes, besteht: Soweit also der Souverän keine
19 BVerfGE 54, 143.
20 BVerfGE 80, 137.
21 BVerfGE 90, 145.
22 Grundlegend BVerfGE 6, 32 (36): „Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne“. Vgl insb auch BVerfGE 80, 137 (152):
„Geschützt ist damit jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung
für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt“. Vgl für die neuere Rsp etwa BVerfGE 128, 193. Näher zu Struktur der
Allgemeinen Handlungsfreiheit Alexy, Theorie der Grundrechte (1994) 309 ff. Für einen aktuellen dogmatischen
Abriss vgl nur Dreier in Dreier (Hrsg), Grundgesetz-Kommentar I³ (2013) Art 2 I.
23 Merli, Die allgemeine Handlungsfreiheit, JBl 1994, 233.
24 Vgl nur Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht (2005) 27 ff mwN.
25 Berlin, Four Essays on Liberty (1969) xlii.
26 Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792 [Ausgabe Reclam
2006]) 22 ff, Mill, On Liberty² (1859) 100 ff; vgl insb auch die klassische Konzeption negativer Freiheit bei Constant,
De la liberté des Anciens comparée à celle des Modernes (1819).
27 VfGH 9. 12. 2015, E 50/2015, 59/2015 Rz 4.
28 Merli, JBl 1994, 233.
29 Kant, Metaphysik der Sitten (1797) AAVI 223.
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Austrian Law Journal
Band 2/2016
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 2/2016
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 40
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal