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ALJ 2/2016 Allgemeine Handlungsfreiheit im System der österreichischen Bundesverfassung 117
Und all das erscheint aus Perspektive der österreichischen Grundrechtsordnung,77 die judikativ
erst vor kurzem um einen ganzen Katalog erweitert wurde,78 vielleicht nicht einmal bemerkens-
wert.
E. Obsoleszenz
Es ist damit durchaus plausibel zu argumentieren, dass sich der freiheitsrechtliche Bestand auf
eine Gewährleistungsdichte zubewegt, die in der Tat nur noch de minimis Fälle79 vernachlässigt.
Und doch befriedigt dieser Befund nicht. Nicht nur, weil ja die Expansion selbst das augenschein-
lichste Anzeichen von Schutzdefiziten sein könnte, die die Judikatur vermeint kompensieren zu
müssen,80 sondern weil der Befund bei näherer Betrachtung ein bloß empirischer ist und kein
dogmatischer sein kann: Sollen sich die distinkten Freiheitssphären, die in den Einzelgewährleis-
tungen verbrieft sind, nicht in der Allgemeinen Handlungsfreiheit verlieren, nennen wir das die
„Obsoleszenzthese“, soll also die Expansion nicht ihre Eltern fressen, gilt es, auch der VfGH be-
tont das der Sache nach in seiner Rechtsprechung,81 die Ausdehnung der distinkten Frei-
heitssphären hin zu einer allgemeinen Handlungsfreiheit als asymptotisch zu akzeptieren.
Um die Pflöcke in der österreichischen Grundrechtslandschaft mag sich damit ein immer dichteres
Rankengeflecht bilden. Ein Lattenzaun wird das nicht. Der etablierte freiheitsrechtliche Grund-
rechtsschutz bleibt damit notwendig insuffizient.
77 Auf regionaler Ebene tut eine Tendenz in der Rechtsprechung des EGMR, im Bereich der Zusatzprotokolle zuwei-
len die Konventionsstaaten auch auf Garantien zu verpflichten, die nicht im Ratifikationsweg akzeptiert wurden
(vgl zuletzt etwa für Russland EGMR 29. 10. 2015, 44095, A.L. (X.W.)/Russia Rz 64: „In view of Russia’s unequivocal
undertaking to abolish the death penalty, partly fulfilled through an initially de facto moratorium that was sub-
sequently confirmed de jure by the Constitutional Court, the Court considers that the finding made in the case of
Al-Saadoon and Mufdhi ‒ namely that capital punishment has become an unacceptable form of punishment that
is no longer permissible under Article 2 as amended by Protocols Nos. 6 and 13 and that it amounts to ‚inhu-
man or degrading treatment or punishment’ under Article 3 […] ‒ applies fully to Russia, even though it has not
ratified Protocol No. 6 or signed Protocol No. 13. Russia is therefore bound by an obligation that stems from
Articles 2 and 3 not to extradite or deport an individual to another State where there exist substantial grounds
for believing that he or she would face a real risk of being subjected to the death penalty there.“), das Übrige.
78 VfSlg 19.632/2012; dazu nur Potacs, Das Erkenntnis des VfGH zur Grundrechte-Charta und seine Konsequenzen,
in Baumgartner (Hrsg), Jahrbuch Öffentliches Recht (2013) 11, Pöschl, Verfassungsgerichtsbarkeit nach Lissabon,
ZöR 2012, 587, Gamper, Wieviel Kosmopolitismus verträgt eine Verfassung, JBl 2012, 763, und Holoubek, Das Ver-
hältnis zwischen europäischer Gerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtshof, in Kooperation der Gerichte im
europäischen Verfassungsverbund – Grundfragen und neueste Entwicklungen, in Grabenwarter/Vranes (Hrsg),
Kooperation der Gerichte im europäischen Verfassungsverbund – Grundfragen und neueste Entwicklungen
(2013) 157; sowie aus der neueren Literatur Müller, An Austrian Ménage à Trois : The Convention, the Charter
and the Constitution, in Ziegler ea (Hrsg), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship (2015) 299.
79 Welche auch immer das sein mögen – vgl in diesem Zusammenhang insb auch die Diskussion bei Alexy, Theorie
324 f.
80 Vgl dazu etwa Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights (2007) 126 ff;
sowie ders, Strasbourg’s Interpretative Ethic: Lessons for the International Lawyer, EJIL 2010, 509 (538 ff).
81 Vgl zum Recht auf Achtung des Privatlebens erneut VfSlg 19.662/2012 sowie zum Schutz der persönlichen Frei-
heit insb bereits VfSlg 3104/1956: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (Erk. Slg.
872, 1207 u. a.) bezieht sich der Schutz der Freiheit der Person, wie [er] sich aus dem Wortlaut des Art. 8 StGG. ĂĽber
die allgemeinen Rechte der StaatsbĂĽrger im Zusammenhalt mit dem Gesetze vom 27. Oktober 1862, RGBl. Nr. 87,
ergibt, nur auf die körperliche Freiheit der Person. Er bezieht sich jedoch nicht auf die durch ein bloßes Verbot
herbeigeführten Beschränkungen der Handlungsfreiheit. Bei anderer Auslegung wären die übrigen Bestimmun-
gen des StGG. überflüssig.“ – dazu etwa Ress, Das subjektive öffentliche Recht, in FS Antoniolli (1979) 105 (119 f)
sowie insb auch Pöschl/Kahl, Die Intentionalität – ihre Bedeutung und Berechtigung in der Grundrechtsjudikatur,
Ă–JZ 2001, 41 (44).
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Austrian Law Journal
Band 2/2016
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 2/2016
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 40
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal