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ALJ 3/2017 Helmut Koziol 165
Schilcher17 entwickelten Ideen hinweisen will.18 Sie haben mit dem beweglichen System19 eine
gangbare Alternative zu den beiden heute überwiegend angewendeten Gesetzgebungsmethoden
entwickelt. Es ist zwar sicherlich kein Allheilmittel, kann aber doch in weiten Bereichen wertvolle
Anregungen für die Formulierung der Normen bieten.
Wilburgs bewegliches System20 setzt bei zwei – auch mithilfe der Rechtsvergleichung gewonnenen –
Erkenntnissen an: Es anerkennt erstens die Pluralität der voneinander unabhängigen fundamen-
talen Wertungen und Zwecke, die für die jeweiligen Rechtsgebiete wirken; diese können regel-
mäßig nicht von einem zentralen Grundgedanken her verstanden, angewendet und ausgelegt
werden. Das darf jedoch nach Wilburgs Ansicht nicht zur Billigkeitsjurisprudenz zahlloser unvor-
hersehbarer Ad-hoc-Gesichtspunkte führen, die jeweils nach Belieben herangezogen oder ver-
nachlässigt werden. Im Gegenteil: Es sind sämtliche für ein bestimmtes Rechtsgebiet maßgeben-
den Grundwertungen in ihrem konkreten Zusammenspiel zu beachten. Wilburg nennt diese Grund-
wertungen des jeweiligen Rechtsgebietes „Elemente“; wir würden heute eher von Prinzipien
sprechen.21
Die Pluralität und das jeweilige selbständige Eigengewicht der Prinzipien unterscheidet das Kon-
zept Wilburgs von allen Versuchen, größere Rechtsgebiete auf ein einziges Rechtsprinzip zurückzu-
führen. Er vermeidet daher zum Beispiel die einseitige Erklärung des Schadenersatzrechts mit
dem Verschuldens- oder mit dem Gefährdungsprinzip22 oder einem einzigen sonstigen Prinzip.23
Diese Ansicht erfreut sich heute schon weitgehender Zustimmung: So wird zB im Schadenersatz-
recht anerkannt, dass neben dem Verschulden vor allem eine hochgradige Gefährlichkeit von
Sachen oder Aktivitäten von entscheidender Bedeutung für die Haftungsbegründung sind, aber
auch die wirtschaftlichen Verhältnisse (Schadenstragungsfähigkeit), die Erzielung von Vorteilen
oder die Versicherbarkeit eine Rolle spielen können24.
Nach Ansicht von Canaris25 ist zwar Wilburgs Kritik an jeder Verabsolutierung eines Prinzips und
der Forderung nach stärkerer Differenzierung zweifellos zuzustimmen, doch seien die wechsel-
seitige Ergänzung und damit das Zusammenspiel mehrerer Prinzipien nicht an ein bewegliches
System gebunden. Man könne durchaus auch feste Tatbestände bilden und einen Grundsatz
durch klar umrissene Ausnahmen einschränken. Dem ist insofern sicherlich zuzustimmen, als in
manchen Bereichen eine derartige Normenbildung durchaus gelingen kann und dort, wo feste
17 Schilcher, Theorie der sozialen Schadensverteilung (1977); Schilcher, Neuordnung des österreichischen Schaden-
ersatzrechts, in Magnus/Spier (Hrsg), European Tort Law, Liber amicorum for Helmut Koziol (2000) 293; Schilcher,
Das bewegliche System wird Gesetz in FS Canaris (2007) 1299; Schilcher, Sowohl als Auch – Vierzig Jahre zwischen
Rechtswissenschaft und Politik, in Wünsch (Hrsg), Professoren erinnern sich (2008) 147 (151 ff).
18 Siehe auch L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme (1996).
19 Die Frage, ob es sich um ein „System“ handelt, dem die Merkmale Einheit und Ordnung eigen sind, bejaht
Canaris, Systemdenken und Systembegriff 76 ff.
20 Ausgezeichnete kurze Zusammenfassung der Ideen Wilburgs bieten F. Bydlinski, Methodenlehre 529 ff; F.
Bydlinski, Eine Skizze über bewegliches Systemdenken im Vertragsrecht (1998) 189 (190 ff); Canaris, Systemden-
ken 74 ff.
21 Zum Verhältnis von Wilburgs System zur Prinzipientheorie siehe F. Bydlinski, Die Suche nach der Mitte als Dauer-
aufgabe der Privatrechtswissenschaft, AcP 204 (2004) 309 (329 ff) sowie F. Bydlinski, Die „Elemente des bewegli-
chen Systems“, in Schilcher/Koller/Funk (Hrsg), Prinzipien und Elemente im System des Rechts (2000) 9 (9 ff), je-
weils mit weiteren Hinweisen.
22 Dazu Koziol, Bewegliches System und Gefährdungshaftung, in F. Bydlinski/Krejci/Schilcher/V. Steininger (Hrsg), Das
Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht (1986) 51.
23 Siehe Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts (1941) 1 ff, 26 ff.
24 Vgl Koziol, Grundfragen des Schadenersatzrechts (2010) Rz 6/182 ff.
25 Canaris, Systemdenken 80 f.
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Austrian Law Journal
Band 3/2017
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 3/2017
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 66
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal