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ALJ 3/2017 Das bewegliche System 174
C. Die Sorgfaltswidrigkeit
Das Beispiel der Rechtswidrigkeit: Diese Haftungsvoraussetzung bietet ein sehr anschauliches
Beispiel für die zu bewältigenden Schwierigkeiten.51 Es ist selbstverständlich für den Gesetzgeber
wegen der fast unbegrenzten Vielfalt der zu erfassenden Situationen unmöglich, genau festzule-
gen, wann ein Verhalten rechtswidrig ist. Das ABGB spricht deshalb in § 1294 von der Widerrecht-
lichkeit, ohne diesen höchst unbestimmten und daher ausfüllungsbedürftigen Begriff zu definieren
und ohne auch nur andeutungsweise zu sagen, welche Faktoren für die Feststellung der Wider-
rechtlichkeit im Einzelfall bedeutsam sind. Das hat nicht nur dazu geführt, dass offenbleibt, ob es
um ein Erfolgs- oder ein Verhaltensunrecht gehen soll, sondern auch dazu, dass abgesehen von
diesen Grundfragen der Richter ohne jeglichen Wegweiser bleibt, wie er bei der Feststellung im
Einzelfall vorzugehen hat. Aber auch das sonst besonderen Wert auf feste Regeln legende BGB
lässt den Rechtsanwender diesbezüglich im Dunklen. Das gleiche trifft auch für neuere Gesetze
und aus jüngerer Zeit stammende Entwürfe für künftige nationale oder europäische Regelungen
zu; doch gibt es auch Ausnahmen, die sich daher für einen Vergleich anbieten.
Eine lediglich scheinbar „feste“ Regel, die nur auf die Rechtswidrigkeit als Haftungsvoraussetzung
hinweist, ohne näher zu sagen, was darunter zu verstehen und wie sie zu ermitteln ist, findet sich
im Draft Common Frame of Reference (DCFR). Art 3:102 lautet: „A person causes legally relevant
damage negligently when that person causes the damage by conduct which does not amount to such
care as could be expected from a reasonably careful person in the circumstances of the case.“ Diese
Bestimmung entspricht zwar durchaus üblichen Formulierungen, lässt aber so gut wie alle wesent-
lichen Fragen offen: Wonach richtet sich, was erwartet werden kann? Wie stellt der Richter fest,
was „reasonable“ ist? Welcher Maßstab ist an „careful persons“ anzulegen? Welche der Umstände
des Falles sind letztlich wirklich relevant? Zu all dem finden sich keine näheren Angaben. Ein der-
art konkretisierungsbedürftiges Regelwerk kann wohl kaum die Aufgabe der Vereinheitlichung
des Rechts in den Ländern der Europäischen Union erfüllen:52 Sind die entscheidenden Grundwer-
tungen nicht erkennbar, so ist eine Auseinanderentwicklung bei der Anwendung der Norm durch
eine Mehrzahl von Höchstgerichten, die auf schon bisher unterschiedlichen Rechtssystemen mit
unterschiedlichen Wertungen aufbauen, unvermeidbar, und das Ziel der Vereinheitlichung wird
zwangsläufig weitgehend verfehlt oder ist nur über den weiteren und doch recht unsicheren
Umweg der Konkretisierung durch den Europäischen Gerichtshof erreichbar.
Die European Group on Tort Law (EGTL) versuchte hingegen in Art 4:102 (1) Principles of European
Tort Law (PETL)53 unter Anwendung des beweglichen Systems eine konkretere Umschreibung:
„The required standard of conduct is that of the reasonable person in the circumstances, and depends,
in particular, on the nature and value of the protected interest involved, the dangerousness of the
activity, the expertise to be expected of a person carrying it on, the foreseeability of the damage, the
relationship of proximity or special reliance between those involved, as well as the availability and the
costs of precautionary or alternative methods.“ Diese Regel bietet ganz offenkundig dem Richter
wesentlich mehr Anhaltspunkte für eine Entscheidung.
51 Siehe dazu Koziol, JBl 1998, 619; Koziol, Schaden, Verursachung und Verschulden im Entwurf eines neuen öster-
reichischen Schadenersatzrechts, JBl 2006, 768.
52 Siehe bereits Koziol, ZEuP 1996, 587.
53 European Group on Tort Law (Hrsg), Principles of European Tort Law. Text and Commentary (2005); zu diesen
Koziol, Die „Principles of European Tort Law“ der „European Group on Tort Law“, ZEuP 2004, 234.
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Austrian Law Journal
Band 3/2017
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 3/2017
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 66
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal