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ALJ 3/2017 Das bewegliche System 176
An dieser Art der Regelung wird kritisiert, dass die Berücksichtigung vieler Elemente und deren
unterschiedliches Gewicht zu schwierigen Abwägungen und zu nicht genau nachvollziehbaren
Lösungen führen. Das stimmt in gewissem Maße, aber man darf die noch unbefriedigenderen
Alternativen nicht vergessen: Das Weglassen dieser Wegweiser führt ja keineswegs zu einem
leichteren Finden des Zieles, denn diese Abwägungen sind – wie auch die Rechtsvergleichung
zeigt – letztlich unvermeidlich bei der Feststellung etwa der Sorgfaltswidrigkeit. Es wäre eine Vogel-
Strauß-Politik, die maßgebenden Elemente nicht zu erwähnen und sich damit zufrieden zu geben,
dass damit die Anwendung der Norm erheblich einfacher erscheint.
Es ist hervorzuheben, dass das bewegliche System eigentlich insofern keinen besonderen Neuig-
keitswert hat und bloß eine Selbstverständlichkeit klar macht: Alle schadenersatzrechtlichen
Verhaltensregeln und jegliche Anordnung von Rechtsfolgen bestimmten Handelns erfordern eine
Abwägung des Gesetzgebers zwischen aufeinander prallenden Interessen, nämlich auf der einen
Seite auf möglichst weitgehende Bewegungs- und Entfaltungsfreiheit sowie unbeschränkte Nut-
zung der eigenen Güter, auf der anderen Seite auf möglichst weitgehenden Schutz der eigenen
Sphäre. Überall dort, wo der Gesetzgeber dem Rechtsanwender einen Entscheidungsspielraum
überlässt, weil er eine völlig feste Regel nicht formulieren kann oder will, muss jeder Richter und
sonstige Jurist, der diesen Spielraum auszufüllen hat, eine Interessenabwägung vornehmen. Dies
wird auch mehr oder weniger bewusst getan, weil es anders gar nicht durchführbar ist. Es ist
etwa regelmäßig eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung mehrerer Faktoren nötig,
wenn Verhaltensregeln aufzufinden sind und der Rechtsgüterschutz festgelegt wird.
Es ist nochmals zu betonen, dass etwa die als Alternative angebotenen „festen“ Regeln, die nur
auf die Rechtswidrigkeit als Haftungsvoraussetzung hinweisen, ohne näher zu sagen, was darun-
ter zu verstehen und wie sie zu ermitteln ist, nur scheinbar klar und fest sind. Die Bevorzugung
nicht weiter bestimmter Rechtsbegriffe gegenüber deren näheren Determinierung wäre eine
reine Selbsttäuschung und sollte nicht ernsthaft verfochten werden.
Zusammenfassend ist daher die Selbstverständlichkeit festzuhalten, dass die oft gerügte hohe
Zahl der angeblich Unbekannten bei den erforderlichen Abwägungen nicht dadurch steigt, dass
die erforderliche, unvermeidliche und täglich von den Gerichten zu handhabende Interessenab-
wägung deutlich angesprochen wird. Die Bereitstellung der maßgebenden Faktoren erleichtert
den Richtern bloß ihre Arbeit. Der häufig vertretene Standpunkt, dass eine zusätzliche Bindung
der Gerichte durch Angabe der zu beachtenden Faktoren zu einer höheren Unbestimmtheit füh-
ren soll, ist jedenfalls verblüffend; das Weglassen der für die Entscheidung relevanten Faktoren
kann das Gesetz sicherlich nicht bestimmter machen.
IV. Abgestufte Rechtsfolgten statt Alles-oder-Nichts-Regeln
A. Allgemeines
Während das bewegliche System durch die Angabe der maßgebenden Faktoren unleugbar zu
einer Einschränkung des Spielraums und damit zu einer engeren Bindung der Richter beiträgt, als
sie bei Verwendung von konkretisierungsbedürftigen, allgemeinen Begriffen erreichbar wäre, ist
den Kritikern einzuräumen, dass es in anderer Hinsicht tatsächlich zu einem größeren Spielraum
des Richters führt. Den Normen ist sicherlich dann eine größere Beweglichkeit und Unbestimmt-
heit eigen, wenn an die Stelle einer in der Sache wirklich festen Regel, die etwa eine Alles-oder-
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Buch Austrian Law Journal, Band 3/2017"
Austrian Law Journal
Band 3/2017
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 3/2017
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 66
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal