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Mitgefühl der Verse langsam und gleichmäßig in die Hände, während Karl
aufrecht neben ihm stand und mit starren Augen das schwierige Gedicht sich
entrang.
Je besser Karls Englisch wurde, desto größere Lust zeigte der Onkel, ihn
mit seinen Bekannten zusammenzuführen, und ordnete nur für jeden Fall an,
daß bei solchen Zusammenkünften vorläufig der Englischprofessor sich
immer in Karls Nähe zu halten habe. Der allererste Bekannte, dem Karl eines
Vormittags vorgestellt wurde, war ein schlanker, junger, unglaublich
biegsamer Mensch, den der Onkel mit besonderen Komplimenten in Karls
Zimmer führte. Er war offenbar einer jener vielen, vom Standpunkt der Eltern
aus gesehen, mißratenen Millionärssöhne, dessen Leben so verlief, daß ein
gewöhnlicher Mensch auch nur einen beliebigen Tag im Leben dieses jungen
Mannes nicht ohne Schmerz verfolgen konnte. Und als wisse oder ahne er
dies und als begegne er dem, soweit es in seiner Macht stand, war um seine
Lippen und Augen ein unaufhörliches Lächeln des Glückes, das ihm selbst,
seinem Gegenüber und der ganzen Welt zu gelten schien.
Mit diesem jungen Manne, einem Herrn Mack, wurde, unter unbedingter
Zustimmung des Onkels, besprochen, gemeinsam um halb sechs Uhr früh, sei
es in der Reitschule, sei es ins Freie, zu reiten. Karl zögerte zuerst, seine
Zusage zu geben, da er doch noch niemals auf einem Pferd gesessen war und
das Reiten zuerst ein wenig lernen wolle, aber da ihm der Onkel und Mack so
sehr zuredeten und das Reiten als bloßes Vergnügen und als gesunde Übung,
aber gar nicht als Kunst darstellten, sagte er schließlich zu. Nun mußte er
allerdings schon um halb fünf Uhr aus dem Bett, und das tat ihm oft sehr leid,
denn er litt hier, wohl infolge der steten Aufmerksamkeit, die er während des
Tages aufwenden mußte, geradezu an Schlafsucht, aber in seinem
Badezimmer verlor sich das Bedauern bald. Über die ganze Wanne der Länge
und Breite nach spannte sich das Sieb der Dusche – welcher Mitschüler zu
Hause, und war er noch so reich, besaß etwas Derartiges und gar noch allein
für sich –, und da lag nun Karl ausgestreckt, in dieser Wanne konnte er die
Arme ausbreiten, und ließ die Ströme des lauen, heißen, wieder lauen und
endlich eisigen Wassers nach Belieben teilweise oder über die ganze Fläche
hin auf sich herab. Wie in dem noch ein wenig fortlaufenden Genusse des
Schlafes lag er da und fing besonders gern mit den geschlossenen
Augenlidern die letzten, einzeln fallenden Tropfen auf, die sich dann öffneten
und über das Gesicht hinflossen.
In der Reitschule, wo ihn das hoch sich aufbauende Automobil des Onkels
absetzte, erwartete ihn bereits der Englischprofessor, während Mack
ausnahmslos erst später kam. Er konnte aber auch unbesorgt erst später
kommen, denn das eigentliche, lebendige Reiten fing erst an, wenn er da war.
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Buch Amerika"
Amerika
- Titel
- Amerika
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1927
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 212
- Schlagwörter
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Kategorien
- Weiteres Belletristik