Seite - 54 - in Amerika
Bild der Seite - 54 -
Text der Seite - 54 -
werden konnte, so gern verschwiegen hätte – »ich bitte, lassen Sie mich noch
jetzt, in der Nacht, nach Hause.«
Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere um so schneller
nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen, Dinge, an die er gar
nicht eigentlich vorher gedacht hatte. »Ich möchte um alles gerne nach Hause.
Ich werde gerne wiederkommen, denn wo Sie, Herr Pollunder, sind, dort bin
auch ich gerne. Nur heute kann ich nicht hierbleiben. Sie wissen, der Onkel
hat mir die Erlaubnis zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher
dafür seine guten Gründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir
herausgenommen, gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu
erzwingen. Ich habe seine Liebe zu mir einfach mißbraucht. Was für
Bedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt gleichgültig, ich weiß bloß
ganz bestimmt, daß nichts in diesem Bedenken war, was Sie, Herr Pollunder,
kränken könnte, der Sie der beste, der allerbeste Freund meines Onkels sind.
Kein anderer kann sich in der Freundschaft meines Onkels auch nur im
entferntesten mit Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzige
Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie haben
vielleicht keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkel
und mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange
meine Englischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im praktischen
Handel nicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich auf die Güte meines
Onkels angewiesen, die ich allerdings als Blutsverwandter genießen darf. Sie
dürfen nicht glauben, daß ich schon jetzt irgendwie mein Brot anständig – und
vor allem anderen soll mich Gott bewahren – verdienen könnte. Dazu ist
leider meine Erziehung zu unpraktisch gewesen. Ich habe vier Klassen eines
europäischen Gymnasiums als Durchschnittsschüler durchgemacht, und das
bedeutet für den Gelderwerb viel weniger als nichts, denn unsere Gymnasien
sind im Lehrplan sehr rückschrittlich. Sie würden lachen, wenn ich Ihnen
erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wenn man weiterstudiert, das
Gymnasium zu Ende macht, an die Universität geht, dann gleicht sich ja
wahrscheinlich alles irgendwie aus, und man hat zum Schluß eine geordnete
Bildung, mit der sich etwas anfangen läßt und die einem die Entschlossenheit
zum Gelderwerb gibt. Ich aber bin aus diesem zusammenhängenden Studium
leider herausgerissen worden; manchmal glaube ich, ich weiß gar nichts, und
schließlich wäre auch alles, was ich wissen könnte, für Amerikaner noch
immer zu wenig. Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hie und da
Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne Sprachen und
vielleicht auch Handelswissenschaften lernt; als ich aus der Volksschule trat,
gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar im Englischen
unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals nicht ahnen, welches
Unglück über mich kommen wird und wie ich das Englische brauchen werde,
54
zurück zum
Buch Amerika"
Amerika
- Titel
- Amerika
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1927
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 212
- Schlagwörter
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Kategorien
- Weiteres Belletristik