Seite - 70 - in Amerika
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sich für immer gut aufgehoben geglaubt hatte, völlig versäumt. Nun wollte er
wenigstens mit der Kerze, die er wieder angezündet hatte, diesen Irländer
genauer ansehen, wobei er fand, daß gerade dieser erträglicher aussah als der
Franzose. Er hatte sogar noch eine Spur von runden Wangen und lächelte im
Schlafe ganz freundlich, soweit das Karl aus einiger Entfernung, auf den
Fußspitzen stehend, feststellen konnte.
Trotz allem fest entschlossen, nicht zu schlafen, setzte sich Karl auf den
einzigen Stuhl des Zimmers, verschob vorläufig das Packen des Koffers, da er
ja dafür die ganze Nacht noch verwenden konnte, und blätterte ein wenig in
der Bibel, ohne etwas zu lesen. Dann nahm er die Photographie der Eltern zur
Hand, auf welcher der kleine Vater hoch aufgerichtet stand, während die
Mutter in dem Fauteuil vor ihm, ein wenig eingesunken, dasaß. Die eine Hand
hielt der Vater auf der Rückenlehne des Fauteuils, die andere, zur Faust
geballt, auf einem illustrierten Buch, das aufgeschlagen auf einem schwachen
Schmucktischchen ihm zur Seite lag. Es gab auch eine andere Photographie,
auf welcher Karl mit seinen Eltern abgebildet war. Vater und Mutter sahen ihn
dort scharf an, während er nach dem Auftrag des Photographen den Apparat
hatte anschauen müssen. Diese Photographie hatte er aber auf die Reise nicht
mitgenommen.
Desto genauer sah er die vor ihm liegende an und suchte von verschiedenen
Seiten den Blick des Vaters aufzufangen. Aber der Vater wollte, wie er auch
den Anblick durch verschiedene Kerzenstellungen änderte, nicht lebendig
werden, sein waagerechter, starker Schnurrbart sah der Wirklichkeit auch gar
nicht ähnlich, es war keine gute Aufnahme. Die Mutter dagegen war schon
besser abgebildet, ihr Mund war so verzogen, als sei ihr ein Leid angetan
worden und als zwinge sie sich zu lächeln. Karl schien es, als müsse dies
jedem, der das Bild ansah, so sehr auffallen, daß es ihm im nächsten
Augenblick wieder schien, die Deutlichkeit dieses Eindrucks sei zu stark und
fast widersinnig. Wie könne man von einem Bild so sehr die unumstößliche
Überzeugung eines verborgenen Gefühls des Abgebildeten erhalten! Und er
sah vom Bild ein Weilchen lang weg. Als er mit den Blicken wieder
zurückkehrte, fiel ihm die Hand der Mutter auf, die ganz vorne an der Lehne
des Fauteuils herabhing, zum Küssen nahe. Er dachte, ob es nicht vielleicht
doch gut wäre, den Eltern zu schreiben, wie sie es ja tatsächlich beide (und
der Vater zuletzt sehr streng in Hamburg) von ihm verlangt hatten. Er hatte
sich freilich damals, als ihm die Mutter am Fenster an einem schrecklichen
Abend die Amerikareise angekündigt hatte, unabänderlich zugeschworen,
niemals zu schreiben, aber was galt ein solcher Schwur eines unerfahrenen
Jungen hier in den neuen Verhältnissen! Ebensogut hätte er damals schwören
können, daß er nach zwei Monaten amerikanischen Aufenthalts General der
amerikanischen Miliz sein werde, während er tatsächlich in einer
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Buch Amerika"
Amerika
- Titel
- Amerika
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1927
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 212
- Schlagwörter
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Kategorien
- Weiteres Belletristik