Seite - 99 - in Amerika
Bild der Seite - 99 -
Text der Seite - 99 -
nicht ausnutzen zu können, denn sie fühlte sich todmüde, hatte schon am
Morgen zum Schrecken der Passanten auf der Gasse viel Blut gehustet, und
ihre einzige Sehnsucht war, irgendwo in die Wärme zu kommen und sich
auszuruhen. Und gerade an diesem Abend war es unmöglich, ein Plätzchen zu
bekommen. Dort, wo sie nicht schon vom Hausbesorger aus dem Torgang
gewiesen wurden, in dem man sich immerhin vom Wetter ein wenig hätte
erholen können, durcheilten sie die engen, eisigen Korridore, durchstiegen die
hohen Stockwerke, umkreisten die schmalen Terrassen der Höfe, klopften
wahllos an Türen, wagten einmal niemanden anzusprechen, baten dann jeden,
der ihnen entgegenkam, und einmal oder zweimal hockte die Mutter atemlos
auf der Stufe einer stillen Treppe nieder, riß Therese, die sich fast wehrte, an
sich und küßte sie mit schmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn man
nachher weiß, daß das die letzten Küsse waren, begreift man nicht, daß man,
und mag man ein kleiner Wurm gewesen sein, so blind sein konnte, das nicht
einzusehen. In manchen Zimmern, an denen sie vorüberkamen, waren die
Türen geöffnet, um eine erstickende Luft herauszulassen, und aus dem
rauchigen Dunst, der, wie durch einen Brand verursacht, die Zimmer erfüllte,
trat nur die Gestalt irgend jemandes hervor, der im Türrahmen stand und
entweder durch seine stumme Gegenwart oder durch ein kurzes Wort die
Unmöglichkeit eines Unterkommens in dem betreffenden Zimmer bewies.
Therese schien es jetzt im Rückblick, daß die Mutter nur in den ersten
Stunden ernstlich einen Platz suchte, denn nachdem etwa Mitternacht vorüber
war, hat sie wohl niemanden mehr angesprochen, obwohl sie mit kleinen
Pausen bis zur Morgendämmerung nicht aufhörte weiterzueilen und obwohl
in diesen Häusern, in denen weder Haustore noch Wohnungstüren je
verschlossen werden, immerfort Leben ist und einem auf Schritt und Tritt
Menschen begegnen. Natürlich war es kein Laufen, das sie rasch
weiterbrachte, sondern es war nur die äußerste Anstrengung, deren sie fähig
war, und es konnte in Wirklichkeit ganz gut auch bloß ein Schleichen sein.
Therese wußte auch nicht, ob sie von Mitternacht bis fünf Uhr früh in
zwanzig Häusern oder in zwei oder gar nur in einem Haus gewesen waren.
Die Korridore dieser Häuser sind nach schlauen Plänen der besten
Raumausnützung, aber ohne Rücksicht auf leichte Orientierung angelegt; wie
oft waren sie wohl durch die gleichen Korridore gekommen! Therese hatte
wohl in dunkler Erinnerung, daß sie das Tor eines Hauses, das sie ewig
durchsucht hatten, wieder verließen, aber ebenso schien es ihr, daß sie sich
auf der Gasse gleich umgewandt und wieder in dieses Haus gestürzt hätten.
Für das Kind war es natürlich ein unbegreifliches Leid, einmal von der Mutter
gehalten, einmal sich an ihr festhaltend, ohne ein kleines Wort des Trostes
mitgeschleift zu werden, und das Ganze schien damals für seinen Unverstand
nur die Erklärung zu haben, daß die Mutter von ihm weglaufen wolle. Darum
hielt sich Therese desto fester, selbst wenn die Mutter sie an einer Hand hielt,
99
zurück zum
Buch Amerika"
Amerika
- Titel
- Amerika
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1927
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 212
- Schlagwörter
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Kategorien
- Weiteres Belletristik