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führen konnte, daß sich alles noch unerwartet besserte, »da liegt bestimmt
eine Verwechslung vor. Ich glaube, der Herr Oberportier hat Ihnen gesagt, daß
ich jede Nacht weggehe. Das ist aber durchaus nicht richtig, ich bin vielmehr
jede Nacht im Schlafsaal, das können alle Jungens bestätigen. Wenn ich nicht
schlafe, lerne ich kaufmännische Korrespondenz, aber aus dem Schlafsaal
rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zu beweisen. Der Herr
Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemand anderem, und jetzt
verstehe ich auch, warum er glaubt, daß ich ihn nicht grüße.«
»Wirst du sofort schweigen«, schrie der Oberportier und schüttelte die
Faust, wo andere einen Finger bewegt hätten. »Ich soll dich mit jemand
anderem verwechseln! Ja, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, wenn
ich die Leute verwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary, dann kann ich nicht
mehr Oberportier sein, nun ja, wenn ich die Leute verwechsle. In meinen
dreißig Dienstjahren ist mir allerdings noch keine Verwechslung passiert, wie
mir Hunderte von Herren Oberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten,
bestätigen müssen, aber bei dir, miserabler Junge, soll ich mit den
Verwechslungen angefangen haben. Bei dir, mit deiner auffallenden, glatten
Fratze. Was gibt es da zu verwechseln! Du könntest jede Nacht hinter meinem
Rücken in die Stadt gelaufen sein, und ich bestätige bloß nach deinem
Gesicht, daß du ein ausgegorener Lump bist.«
»Laß, Feodor!« sagte der Oberkellner, dessen telephonisches Gespräch mit
der Oberköchin plötzlich abgebrochen worden zu sein schien. »Die Sache ist
ja ganz einfach. Auf seine Unterhaltungen in der Nacht kommt es in erster
Reihe gar nicht an. Er möchte ja vielleicht vor seinem Abschied noch
irgendeine große Untersuchung über seine Nachtbeschäftigung verursachen
wollen. Ich kann mir schon vorstellen, daß ihm das gefallen würde. Es
würden womöglich alle vierzig Liftjungen heraufzitiert und als Zeugen
einvernommen, die würden ihn natürlich auch alle verwechselt haben, es
müßte also zur Zeugenschaft allmählich das ganze Personal heran, der
Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt, und wenn er dann
schließlich doch hinausgeworfen würde, so hätte er doch wenigstens seinen
Spaß gehabt. Also das machen wir lieber nicht. Die Oberköchin, diese gute
Frau, hat er schon zum Narren gehalten, und damit soll es genug sein. Ich will
nichts weiter hören; du bist wegen Dienstversäumnis auf der Stelle aus dem
Dienst entlassen. Da gebe ich dir eine Anweisung an die Kasse, daß dir dein
Lohn bis zum heutigen Tage ausgezahlt werde. Das ist übrigens bei deinem
Verhalten – unter uns gesagt – einfach ein Geschenk, das ich dir nur aus
Rücksicht auf die Frau Oberköchin mache.«
Ein telephonischer Anruf hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zu
unterschreiben. »Die Liftjungen geben mir aber heute zu schaffen!« rief er
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Buch Amerika"
Amerika
- Titel
- Amerika
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1927
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 212
- Schlagwörter
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Kategorien
- Weiteres Belletristik