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»Ja«, seufzte Robinson, zündete sich eine Zigarette an und blies unter
großen Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich
anders zu entschließen und sagte: »Was kümmert das mich? Ich weiß nur, er
würde viel Geld dafür geben, wenn er so hier auf dem Balkon liegen dürfte
wie wir.«
Karl stand auf, lehnte sich ans Geländer und sah auf die Straße hinunter.
Der Mond war schon sichtbar, in die Tiefe der Gasse drang sein Licht aber
noch nicht. Die am Tag so leere Gasse war, besonders vor den Haustoren,
gedrängt voll von Menschen, alle waren in langsamer, schwerfälliger
Bewegung, die Hemdärmel der Männer, die hellen Kleider der Frauen hoben
sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohne Kopfbedeckung. Die vielen
Balkone ringsum waren nun insgesamt besetzt, dort saßen beim Licht einer
Glühlampe die Familien, je nach der Größe des Balkons, um einen kleinen
Tisch herum oder bloß auf Sesseln in einer Reihe oder sie steckten wenigstens
die Köpfe aus dem Zimmer hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, die
Füße zwischen den Geländerstangen hinausgestreckt, und lasen Zeitungen,
die fast bis auf den Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar stumm,
aber unter starken Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten den Schoß voll
Näharbeit und erübrigten nur hier und da einen kurzen Blick für ihre
Umgebung oder für die Straße. Eine blonde, schwache Frau auf dem
benachbarten Balkon gähnte immerfort, verdrehte dabei die Augen und hob
immer vor den Mund ein Wäschestück, das sie gerade flickte; selbst auf den
kleinsten Balkonen verstanden es die Kinder, einander zu jagen, was den
Eltern sehr lästig fiel. Im Inneren vieler Zimmer waren Grammophone
aufgestellt und bliesen Gesang oder Orchestralmusik hervor, man kümmerte
sich nicht besonders um diese Musik, nur hie und da gab der Familienvater
einen Wink, und irgend jemand eilte ins Zimmer hinein, um eine neue Platte
einzulegen. An manchen Fenstern sah man vollständig bewegungslose
Liebespaare, an einem Fenster Karl gegenüber stand ein solches Paar
aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und
drückte mit der Hand ihre Brust.
»Kennst du jemanden von den Leuten hier nebenan?« fragte Karl
Robinson, der nun auch aufgestanden war, und, weil es ihn fröstelte, außer der
Bettdecke auch noch die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.
»Fast niemanden, das ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung«, sagte
Robinson und zog Karl näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können,
»sonst hätte ich mich augenblicklich nicht gerade zu beklagen. Die Brunelda
hat ja Delamarches wegen alles, was sie hatte, verkauft und ist mit all ihren
Reichtümern hierher in diese Vorstadtwohnung gezogen, damit sie sich ihm
ganz widmen kann und damit sie niemand stört, übrigens war das auch der
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Buch Amerika"
Amerika
- Titel
- Amerika
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1927
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 212
- Schlagwörter
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Kategorien
- Weiteres Belletristik